von Sarah Buschmeier
Als ich das Haus wieder verließ, war die Welt eine andere geworden. Die Nacht war über die Stadt hinein gebrochen und der Herbst zeigte seine dunkle Seite. Regen fiel in finsteren Schleiern vom Himmel herab und im Rinnstein hatte sich ein kleiner Bach gebildet. Die leuchtenden Punkte der Straßenlaternen schwammen inmitten der Pfützen, die sich zwischen den Pflastersteinen gesammelt hatten.
Nachdem ich die Knöpfe meiner Jacke geschlossen und den Kragen meines Revers hochgeschlagen hatte, kämpfte ich mich hinaus auf die Straße. Nach wenigen Schritten hatten sich meine Schuhe ihrer Umgebung angepasst und ich stand im Wasser. Als ich die Straße hinunterblickte, sah ich im Schein der Laternen, wie die dunklen Regenschirme aus dem alten Bahnhofsgebäude quollen. Das Bahnhofsgebäude hatte über die Jahre an Pracht und Schönheit eingebüßt. Die senffarbene Fassade war blass und rissig geworden. Das Dach, einst silbern glänzend, war nun matt. An den Rändern des Daches, an denen die Witterung besonders nagte, hatte der Rost seinen Beitrag geleistet. Während ich dem Gebäude näher kam, ebbte der Strom der Regenschirme, die den Bahnhof verließen, langsam ab. Der Wind zerrte an den Bäumen, die den Bahnhofsplatz säumten. Auch hier zeigte der Herbst seine raue Natur. Vor wenigen Tagen waren die Bäume noch mit orangeroten Blättern bedeckt gewesen, die nun vom ersten Herbststurm weggefegt wurden.
Die letzten Meter bis zum Bahnhof legte ich schnellen Schrittes zurück. In der Eingangshalle war der Boden von Blättern bedeckt. Ich sah auf die große Bahnhofsuhr und stellte fest, dass mir noch eine halbe Stunde blieb. Zu meiner Linken sah ich ein kleines Café, wie man es in den meisten Bahnhöfen antraf: Zwanghaft auf alt getrimmt und doch so modern, dass die Nostalgie falsch wirkte. Hinter den dreckigen Scheiben sah ich verstaubte Lampen an der Decke hängen. Die grünen Fliesen auf dem Boden waren mittlerweile so abgelaufen, dass graue Stellen überwogen. Die abgegriffenen Möbel schienen wahllos im Raum verteilt. Ich entschied mich, vor meiner Abfahrt noch einen Kaffee zu trinken. Als ich das Café betrat, blickten mir zwei Augenpaare entgegen. Das eine gehörte einem älteren, fülligen Mann, der am Tresen saß und den Eindruck erweckte, als tränke er ausschließlich Bier. Er schien das Café vor geraumer Zeit betreten zu haben, da sein lichtes, graues Haar trocken war. Er trug ein kariertes Hemd, das über seine ausgewaschene Kordhose hing.
Hinter dem Tresen stand eine Frau um die fünfzig, die sich wunderbar in die Ausstattung des Cafés einfügte. Ihre Schürze war mit Flecken übersät und sie hatte ihr Haar lieblos zu einem Dutt zusammengebunden, aus dem einige hellbraune Strähnen heraushingen. Mit ein wenig Bemühen um ihr Äußeres hätte sie sicherlich hübscher sein können. Ihre Augen waren matt und man sah ihr an, dass sie nicht oft lächelte. Aber wen wundert es, wenn man sich tagein, tagaus mit solchen Subjekten, wie sich eines vor dem Tresen befand abgeben musste. Zum einem waren genau diese Menschen die zahlende Kundschaft und zum anderen musste man sich eher wie ein Therapeut als eine Kellnerin verhalten, wollte man sich in diesem Geschäft über Wasser halten.
Nach einem knappen Zunicken befreite ich mich von meinem regennassen Mantel und hängte ihn an die Garderobe. Ich suchte mir einen einsamen Tisch nahe am Fenster aus, der der mir die Sicht auf das vereinsamte Bahnhofsgelände ermöglichte. Da ich nichts, was eine Beobachtung wert gewesen wäre, ausmachen konnte, sah ich zunächst in die Karte, die mich in verschwommenen Lettern grüßte: „Willkommen im Cafe Noir“.
Die Kellnerin kam an meinen Tisch. Ihre Stimme hatte noch das Jugendliche, das ihr Äußeres verloren hatte. Ich blickte ihr kurz in die Augen, die sie daraufhin abwandte, und bestellte einen Kaffee. Schwarz. Erst jetzt bemerkte ich eine junge Frau, die an einem Tisch am anderen Ende des Cafés saß. Die Kaffeetasse in beiden Händen und mit leicht zur Seite geneigtem Kopf las sie Zeitung. Ihre Augen streiften über das Papier. Manchmal bewegte sie ihre Lippen, als ob sie sich selbst leise vorläse. Während sie in ihre Lektüre versunken war, berührten einzelne Haarsträhnen immer wieder den Milchschaum ihres Kaffees. Wenn sie trank, hob sie ihren Blick nicht, sie schien mich gar nicht wahrzunehmen. Ihre Wangen waren leicht gerötet, vielleicht war sie auch erst kurz vor mir aus dem unliebsamen Wetter hier herein gestolpert. Feine Grübchen der Zufriedenheit umspielten ihre Lippen und ich konnte nicht umhin, mir den Geruch ihres Haares auszumalen. Wie sie so dasaß, schien es, als hätte sie die Schwermut der Welt für einen Moment einfach abgestreift. In meinem Inneren formte sich der Wunsch, mehr von ihr zu erfahren. Wer war sie? Wo kam sie her? Warum saß sie zu dieser späten Stunde allein in einem Café, während draußen der Sturm die Welt ihrer Farben beraubte?
Ich schob meinen Stuhl zurück, ließ meinen Kaffee allein und ging mutig auf ihren Tisch zu. Kurz vor ihr blieb ich stehen und musterte den Aushang irgendeines örtlichen Sportvereins. Ich richtete alle meine Sinne auf den Stuhl vor mir; ich hörte, wie sie Zucker in ihren Kaffee rührte und dabei mit dem Löffel an die Tassenwand stieß. Ich fühlte ihren Blick auf meinem Rücken und drehte mich um. Mit einem verwunderten Gesichtsausdruck schaute sie mich an. „Ich hätte dich gern früher getroffen“, sagte ich leise. Bevor sie irgendetwas erwidern konnte, legte ich ihr meinen Schal auf den Tisch und sprach mehr zu mir selbst: „Die Nächte sind kalt zu dieser Jahreszeit“. Ich verließ das Café und ging, ohne noch einmal zurückzublicken, geraden Schrittes Richtung Gleis. In meinem noch feuchten Mantel wartete ich auf den Zug, stieg ein und suchte mir einen Sitzplatz am Fenster. Regentropfen bildeten auf der Scheibe kleine Rinnsale, um schließlich auf den Boden abzuperlen. Das Pfeifen des Schaffners ertönte und die Türen schlossen sich. Durch die beschlagene Scheibe sah ich, wie die junge Frau das Café verließ. Ob sie den Schal trug, konnte ich nicht erkennen.