Kapitel 2
von Andreas Hohmann
00:15 Uhr. Warum mache ich diese Kreuzfahrt, wenn alle Männer auf diesem Schiff entweder verheiratet, nicht mein Typ oder angehalten sind, sich nicht mit Gästen einzulassen? Heute Abend im Speisesaal hatte ich das Gefühl, es gibt nur Eheringe, langweilige Unterhaltungen oder andere Gründe, das Weite zu suchen. Nur ein Gutes hatte der Abend: Leonardo mit dem Traubenzuckeratem, der aus La Romana. Ich habe ihn wiedergesehen, wenn auch nur im Vorbeigehen, auf dem Weg zum Essen. Und ich weiß immer noch nicht, wie er wirklich heißt. Aber er ist ein Leonardo, der Mann aus La Romana.
… ich glaube, das hier kommt nicht in den Blog.
Noch galt das einzige Verlangen, das ihr Leonardo aus La Romana verspürte, der untergehenden Sonne, die den Himmel ein letztes Mal in Brand setzte, bevor sie die Bühne des Horizonts an die Nacht übergab. Die letzten Strahlen liebkosten sein markantes Gesicht. Sekundenlang begegneten sich seine und Marias Blicke im flammenden Abendrot, das vom Wasser des Pools gespiegelt wurde. Sie zog ihre Sonnenbrille eine Winzigkeit Richtung Nase herunter. Er kniff die Augen zusammen, und in der Hitze des Tages schimmerte ein perlender Schweißfilm wie ein See aus Silber auf seinen muskulösen Armen. Auf seinem prächtigen Oberkörper lag ein makellos weißes T-Shirt aus feiner Merino-Wolle, das ihn vor Hitzewallungen bewahrte, schnell trocknete und vor allem nicht stank.
Maria betrachtete es mit einem Interesse, das sie selbst den Körperbau von Mr. Perfect für einige Sekunden vergessen ließ. Denn Shirts dieser Art waren ein – wenn auch mittlerweile nicht mehr ganz so geheimer – Geheimtipp. Dass Leonardo ein solches trug, verriet Maria, dass dies nicht die erste Kreuzfahrt war, die er unternahm. Und das wiederum konnte nur heißen, dass es einiges gab, was er einer Frau mit Anspruch bieten konnte.
Genau der Richtige, dachte sie frohlockend.
Das Lächeln, das sie ihm dann zuwarf, sollte den Sack zu machen. Heute Nacht würde sie nicht alleine schlafen. Wieder trafen sich ihre Augen. Dann plötzlich nahm Leonardo die Hände aus den Hosentaschen, drehte sich auf dem Absatz um und griff nach der Reling. Bevor er seinen trainierten Körper leichtfüßig hinüber schwang und sich dann – nach einem ungeschickten Fall – etwa siebzig Meter tiefer beim Aufprall auf dem pfützenübersäten Betonboden des Trockendocks das Genick brach, rief er ihr noch zu: „No way, darling!“
Und über Bord war er. Und dann tot.
Mit einem Schrei fuhr sie aus dem Schlaf hoch. Sekundenlang saß sie kerzengerade im Bett, ehe sie sich – von dem schieren Schock der Nachbilder ihres Traumes erschöpft – wieder in die Waagerechte fallen ließ. Ihr schneeweißes Kissen war weich wie Watte und von ihrem Kopf warm wie der sonnenbelächelte Strand von Jamaika.
Und es war so gut gefüttert wie die weißbepelzte Hand, die unbeholfen auf ihr Nachthemd klatschte und suchend und tastend über ihren Bauch krabbelte.
Mit weit aufgerissenen Augen lag sie da und glotzte an die Decke, während ein Atem an ihr Gesicht brandete, der von viel zu viel Mangosoße und viel zu wenig Zahnpasta kündete.
„Engelein“, grunzte die schlaftrunkene Stimme des weißhaarigen deutschen Rentners aus der Kabine nebenan, „du hast nur schlecht geträumt. Komm kuscheln, ich vertreib‘ dir die bösen Erinnerungen.“
Wieder fuhr sie schreiend aus dem Schlaf hoch. Ein Traum – in einem Traum? Was war mit Leonardo? Und mit dem Rentner? Maria schüttelte sich. Sie war doch nie im Trockendock des Kreuzfahrtschiffs gewesen … Gerade wollte sie sich wieder ins Bett fallen lassen, da sah sie, dass dessen linke Seite auch in der wachen Welt nicht leer war.
„Oh nein!“