Fortsetzungsroman, Seite 13a

von Sven Draht

Der Zug stoppte auf einem Bahnhof im Nirgendwo, um seine überhitzten Motoren zu entlasten. Ich lasse meinen Rucksack auf dem Sitz liegen. Man gewinnt mehr Vertrauen zu den Leuten, wenn man mit 220 km/h, umgeben von tonnenschwerem Stahl, in die gleiche Richtung reist.
Ich trage alte Jeans, in der mein Hintern gut sitzt, und eine Lederjacke, die einfach geil aussieht, stecke mir eine Zigarette an, puste Rauchkringel heraus und latsche los. Überall prasseln Menschen aus dem Zug auf die Gleise, um sich die Füße zu vertreten oder zu rauchen oder weil es eben alle anderen auch machen.
Da ist ein behinderter Junge, dessen Arme und Beine zu lang für seinen Oberkörper sind,er ist mit seiner Mutter unterwegs. Sie stöhnt, leidet und jeder muss es natürlich mitbekommen. Ihr Sohn ist ein zurückgebliebener Riese mit weichen Augen. Daneben sitzt der Vater mit einer riesigen Nase voller Löcher und Pickel. Er hat rot unterlaufene, wässrige Augen mit dem gleichen gutmütigen Blick eines Hundewelpen, den er seinem Sohn vererbt hat. Die Mutter ist fett um die Hüfte und ihr schlaffer Busen hängt unter dem gelben Seidenpulli bis zu den Speckringen ihres Bauches. Sie redet laut und der Alte antwortet genervt etwas. Ihr lärmender Anblick kühlt meine Gedanken ab.
Meine Sitznachbarin schlendert missmutig am Gleis entlang mit verschränkten Armen. Sie redet andauernd von Gott, ist sehr bleich und riecht nach saurem Toastbrot.  Die bräuchte mal einen Schnaps, was zum Lachen und einen mittelgroßen Schwanz, um wieder klarzukommen. Wir haben nur einmal kommuniziert während der ganzen Fahrt. Sie konnte ihren Irrsinn nicht lange zurückhalten und fing an zu reden, als ich sie nach der Uhrzeit fragte.
„Der Dämon ist überall. Wir müssen Gott lieben und den Kampf der Geschlechter beenden. Zwischen dem unreifen, notgeilen Mann und der Frau als Dirne“, sagte die Sitznachbarin.
„Wie die Wanderhure. Die hat ja die Städte durchgenommen. Alles, was da war. Vom Pächter über den Marktschreier bis zum Schweinebauer. Sie hat sie alle geschafft und dann ist sie weiter gewandert“, sagte ich. Dann hat die Sitznachbarin nichts mehr gesagt und wir haben drei Stunden schweigend nebeneinandergesessen.
Da ist auch ein Typ, unterwegs mit seiner Freundin. Er starrte hin und wieder zu mir rüber mit diesem hungrigen Blick. Irgendwie beneide ich die beiden und irgendwie hasse ich sie auch. Dann bekomme ich Angst vor dem Kinderkriegen, aber es ist so schön Old school und doch auch wieder im Trend. Ich wünsche mir, dass die beiden ein debiles Kind bekommen, das sehr viel Arbeit macht und dann,… möchte ich plötzlich weinen, weil das Kind, das überhaupt nicht existiert doch Hilfe braucht und ich würde ihm trotzdem all meine Liebe geben und erwachsen werden, weniger abkacken auf den Scheiß um mich herum, sondern eine starke, liebevolle Mutter sein, die für ihr zurückgebliebenes Kind alles tut, obwohl ich mir ja eigentlich vorgestellt hatte, dass die beiden ein debiles Kind bekommen, und mein Herz diese unlogische Scheiße einfach nicht verstehen kann. Eine Träne bildet sich und ich schlucke kurz. Danke Gedanken und Hormone – ihr Motherfucker.
Ich hole mir einen Kaffee, setze mich hin und fange an, weiterzulesen im Tagebuch der Anne Frank. Jeder weiß, was am Ende passiert, und ihre Einträge rasen auf das Ende zu wie ein Zug auf einen Abgrund. Hätte ich nur halb ihr Talent, ihre Freude und Beobachtungsgabe! Selbst ihr verdammtes Tagebuch liest sich besser als meine deprimierenden Icherzähler-Geschichten von der frustrierten Mittzwanzigerin, die sich anhört wie Charlotte Roche, die Königin der Skelette und Möchtegern-Anti-Tussis.
Hallo Anne. Würde ich dir einen Brief schreiben, er würde so aussehen. Ich habe die Tränen, die kommen werden, am Ende des Buches, niemals sehnlicher gewollt. Vielleicht ist das Leiden wirklich was wert, wenn Schmerz aus Liebe geschieht/erwächst. Vielleicht hat Jesus das mal gesagt. Vielleicht will keiner wissen, was mit dir passiert ist, als die Tore zu dem Zugwaggon verschlossen wurden und du mit Menschen aneinander gepresst in der Dunkelheit gewartet hast, bis du mit ihnen in das logistisch perfekt funktionierende Konzentrationslager gebracht wurdest, wo Wärter mit geraden Zahnreihen mathematisch genaue Statistiken darüber führten, wer zuerst in die Leere geht.

Ich schaue auf. Der Zug fährt weiter in dieser Welt. Da sitzen diese ganzen nervigen Leute und steigen mit ein. Das ist eine gute Nachricht.