von Lena Rippe
Seit gut eineinhalb Jahren ist die Wehrpflicht in Deutschland Geschichte. Die Bilanz: Rund ein Viertel der freiwillig Wehrdienstleistenden quittiert den Dienst vorzeitig und ohne große Erklärungen. Doch was passiert mit denjenigen, die sich nicht wenige Monate, sondern 13 Jahre für den gut bezahlten Staatsdienst verpflichtet haben und nun raus wollen? Wie schwer es Offiziersanwärtern gemacht wird, zeigt der Besuch bei einem, der den Ausstieg geschafft hat.
„Die spielen ein Jahr ein bisschen Krieg und können jederzeit gehen. Und wir sind gefangen im System.“ Georg Bösmann* sitzt verärgert in seinem ehemaligen Kinderzimmer. An die weißen Wände ist mit blauer Farbe ein Alpenpanorama gemalt. Während seiner Zeit bei der Bundeswehr musste er nur aus dem Fenster gucken, um sie zu sehen. Heute erblickt er draußen das graue Bremer Nieselwetter.
Georg hat wenig Verständnis dafür, dass seit der Abschaffung der Wehrpflicht freiwillig Wehrdienstleistende den Dienst so problemlos abbrechen können: „Denjenigen, die ein Jahr zur Bundeswehr gehen und da dann trotzdem raus wollen, wird es leicht gemacht und auf der Strecke bleiben diejenigen, die sich für 13 Jahre verpflichtet haben und merken, dass sie als Persönlichkeit dafür nicht geschaffen sind“.
Seit Juli 2011 ist die Wehrpflicht in Deutschland abgeschafft. Junge Männer müssen sich fortan nach der Schule nicht mehr zwischen dem Dienst an der Waffe und zivilen Hilfstätigkeiten entscheiden. Seitdem baut die Bundeswehr auf ein Heer aus Zeit- und Berufssoldaten und freiwillig Wehrdienstleistenden.
Mit Fantasie und Durchhaltevermögen
Georgs bester Freund Tim hat erst Kunstgeschichte studiert, dann doch Germanistik und letztlich eine Ausbildung zum Mediendesigner begonnen. Georg wusste sofort genau, was er machen wollte. Und war dadurch gefangen.
Direkt nach dem Abitur hat er sich für eine Offizierslaufbahn und damit für ein bezahltes Studium entschieden: „Ich bin davon ausgegangen, dass ich etwas Gutes für den Staat tue und dass der Staat meine Hilfe braucht“. Zudem waren die finanzielle Unabhängigkeit und die gute Ausbildung, mit denen die Bundeswehr ihre Offiziersanwärter lockt, für den damals 18- Jährigen attraktiv. Sehr zum Leidwesen seiner Familie. „Georg hat sich nie geprügelt und versucht die Probleme im Gespräch zu lösen. Aber sein Sinn für Gerechtigkeit und der Wunsch nach Unabhängigkeit haben bei der Entscheidung für die Bundeswehr wohl den Ausschlag gegeben“, erklärt seine Mutter, als sie Pfefferminztee mit einem Schuss Zitrone ins Zimmer bringt. Sie kann nicht oft genug betonen, wie froh sie ist, ihren Georg wieder bei sich zu haben. Bevor sie den Raum verlässt, deutet sie auf zwei große Poster mit Schriftzug an der Wand: „Als er sich die damals in seine Studentenbude gehängt hat, wusste ich, dass er nicht glücklich ist. Eine Mutter spürt so etwas“.
Die Worte „Imagination“ und „Persistance“ sind auf den Bannern über Georgs Bett zu lesen. Mit Vorstellungskraft hat sich Georg damals an einen anderen Ort gewünscht, Ausdauer brauchte er, um in der Vergangenheit durchzuhalten. Heute erinnern die Poster ihn daran, dass sich sein Durchhaltevermögen ausgezahlt hat. Denn heute ist er frei.
Mehr Sport als Mord
Wer sich für eine Offizierslaufbahn bei der Bundeswehr entscheidet, bekommt die Ausbildung an einer Offiziersschule und das Studium an einer der beiden Bundeswehr-Universitäten komplett bezahlt – bei vollem Gehalt vom ersten Tag an. Nach der militärischen Ausbildung und dem Studium folgen dann neun Jahre im Dienst, Auslandseinsätze inbegriffen. Risiken und Konsequenzen der Karriere bei der Bundeswehr hat Georg damals ausgeblendet: „Ich wusste um die Gefahren, aber ich war so überzeugt von der Aufgabe, dem Staat zu dienen. Ich dachte, dass es etwas über meinen eigenen Ängsten gibt, für das es sich zu kämpfen lohnt“.
Kämpfen musste Georg – doch letztlich nicht für sein Vaterland, sondern für die Entscheidung, freiwillig den Dienst zu quittieren. Nach zweieinhalb Jahren bei der Bundeswehr begann der einst überzeugte Offizier zu zweifeln.
Offiziere müssen unter außergewöhnlichen Belastungen verantwortungsvoll handeln und Entscheidungen treffen. Bei gespielten Szenarien, in denen er von der Waffe hätte Gebrauch machen müssen und Entscheidungen über Leben und Tod treffen sollte, war Georg dazu nicht in der Lage. Als seine Ausbilder eine Patrouille durch ein Krisengebiet simulierten, erkannte Georg zwei Personen, die augenscheinlich einen Anschlag vorbereiteten. Er erfasste die Bedrohung, konnte sich jedoch nicht dazu überwinden, den gespielten tödlichen Schuss abzufeuern. „Eine innere Blockade hinderte mich daran, auf diese Menschen zu schießen. Ich habe mich damals für die menschlichste Lösung entschieden, Leben zu retten, aber diese wurde im militärischen Sinne nicht toleriert“.
Zunächst führte er seine Unfähigkeit auf mangelnde Erfahrung zurück, doch als sich solche Konflikte häuften, wurde ihm bewusst, dass diese Blockaden im Ernstfall den Tod für seine Kameraden und ihn bedeuten würden. Dieser Gefahr wollte Georg sich nicht aussetzen.
Zu dieser Erkenntnis kam er jedoch nicht, während er im Schlamm kroch, sondern erst in seinem kahlen Studentenzimmer in Alpennähe auf dem Bundeswehr-Campus in Neubiberg. „Das ist mehr Sport als Mord“, beschreibt Georg den Abschnitt seiner Ausbildung, „man schießt auf Pappscheiben, da bleibt keine Zeit, um den Bezug zum menschlichen Ziel herzustellen“. Erst mit dem Beginn des eigentlichen Studiums hatte der 22-Jährige den Freiraum, die Ereignisse zu verarbeiten. Nach zehn Monaten auf dem Universitätsgelände stellte er fest, dass er dort wegmusste.
„Daran würde ich als Mensch zerbrechen“
Vor seiner endgültigen Entscheidung, die Bundeswehr zu verlassen, hat Georg lange gezögert: „Ich hatte Hemmungen, weil ich eigentlich von der Bundeswehr überzeugt war. Es kostete Überwindung sich einzugestehen, dass die Entscheidung nicht richtig gewesen war. Das ist immerhin eine 180-Grad-Kehrtwende. Ich fühlte mich als Verräter“.
Darum entschließt sich Georg seine vorerst auf drei Jahre festgeschriebene Dienstzeit zu beenden und sich vom Studium zu verabschieden. In diesem Fall wäre seine Dienstzeit nicht verlängert und er damit ohne weitere Pflichten gegenüber der Bundeswehr entlassen worden. Doch sein Plan scheitert wegen einer Frist, von der er nichts wusste: „Ich war für den Antrag einen Tag zu spät dran. Niemand hatte uns über diese Deadline informiert. So blieb mir nur der Weg der Verweigerung“.
Also nimmt sich Georg einen Anwalt, alleine traut er sich das Verfahren nicht zu. Denn die Bundeswehr schweigt, wenn es darum geht, Soldaten bei einem vorzeitigen Ausstieg zur Seite zu stehen. Grundsätzlich gebe es keinen formellen Weg, die 13 Jahre Dienstzeit vorzeitig zu beenden, so die offizielle Antwort. Das Konzept der Bundeswehr sieht einen solchenAbbruch nicht vor. Die Dienstzeit der Soldaten wird automatisch schrittweise verlängert, zunächst von drei auf sechs Jahre und nach dem Abschluss des Studiums schließlich auf die gesamten 13 Jahre. Die schrittweise Verlängerung soll die Bundeswehr davor bewahren, Soldaten, die an der Ausbildung zum Offizier scheitern, weiterhin bezahlen zu müssen.
Eine Kriegsdienstverweigerung, das heißt die Berufung darauf, dass sich der Dienst an der Waffe nicht mehr mit dem eigenen Gewissen vereinbaren lässt, sei der Bundeswehr zufolge wohl immer möglich. Nur wie genau, bleibt unbeantwortet. „Man wird einfach nicht aufgeklärt über die Möglichkeiten, die man hat, um auszusteigen. Über die genauen Abläufe herrschen nur Gerüchte. Man weiß nicht, was man für Rechte und Pflichten hat“, berichtet Georg, während er unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutscht. Über die Erlebnisse zu sprechen fällt ihm sichtlich schwer. Er nimmt einen großen Schluck Tee.
Gemeinsam mit dem Anwalt reicht Georg den Antrag zur Kriegsdienstverweigerung ein, dann feilen die beiden mehrere Wochen an der geforderten Begründung. Da die Verweigerung ein rein schriftliches Verfahren ist, hat jede missverständliche Formulierung Konsequenzen. Der Sachbearbeiter prüft jeden Satz genau, der zu Papier gebracht wurde. Ist die Begründung nicht gut genug, muss der Soldat in der Bundeswehr bleiben und im Ernstfall gegen sein Gewissen für das Vaterland in den Einsatz. „Im schlimmsten Fall kann es dann dazu kommen, dass man im Einsatz die Soldaten, die einem unterstellt sind, gefährdet. Daran würde ich als Mensch zerbrechen“, sagt Georg resigniert.
Volles Gehalt fürs Nichtstun
Das Verweigerungsverfahren nimmt Zeit in Anspruch. Wenn man alleine versucht einen Kriegsdienstverweigerungsantrag zu stellen, kann man mit mehreren Wochen rechnen. Ein Experte, wie Georg ihn eingeschaltet hat, beschleunigt das Verfahren.
Während der Wartezeit wird Georg der militärischen Verwaltung zugeordnet, muss Wohnungen der Studenten streichen, die Keller des Fachbereichs entrümpeln oder Klingelschilder für die Studentenwohnheime basteln. Manchmal sitzt er auch nur auf seiner Stube rum – bei vollem Gehalt fürs Nichtstun: „Das Geld hatte für mich keinen Wert, weil ich wusste, dass ich es sozusagen geschenkt bekomme. Mit diesem System ist doch niemanden geholfen“.
Im November stellt Georg den Antrag, Ende Dezember wird ihm stattgegeben und im Januar erhält er schließlich seine Entlassung. Zu Hause erwartet ihn die hohe Rechnung des Anwalts, auf den Bescheid der Rückzahlung der Ausbildungskosten an die Bundeswehr wartet er noch. Die komplizierte Berechnung erfordere Zeit, wurde ihm gesagt. Mit welchen Kosten er zu rechnen hat, darüber wurde geschwiegen.
Geschwiegen werden sollte bei solchen gravierenden Zukunftsentscheidungen aber nicht, davon ist Georg überzeugt. Die Offiziersanwärter benötigen bessere Aufklärung: „Über die Gefahr, sich freiwillig zu verpflichten und selber zu merken, dass man doch nicht geeignet ist, informiert einen niemand. Dass man dann innerhalb des Konstrukts so gefangen ist, belastet einen sehr“. Die Nachwuchsprobleme der Bundeswehr könnten einer besseren Aufklärung potenzieller Bewerber allerdings entgegenstehen.
Die Schwierigkeiten des Austritts haben weitreichende Folgen. „Es ist damit doch nichts gewonnen, wenn jemand, der von sich selber merkt, dass er für die Belastungen nicht geschaffen ist, in den Auslandseinsatz geht und mit einer posttraumatischen Störung zurückkommt“, erklärt Georg, während er die Regentropfen an seinem Fenster beobachtet.
Schmuddelwetter hin oder her, um keinen Preis möchte er zurück in sein Studentenzimmer auf dem Bundeswehr-Campus in Neubiberg: „Ich mag die Alpen und den Schnee. Doch lieber sind sie mir hier drinnen an der Wand“.