Die Nacht der Eule

von Andreas Hohmann

„Ali, denkst du wirklich, dass das nötig ist? Ich halte nichts von dieser absurden Kaffeesatzleserei.“
Alandina warf ihrem Verlobten über die Schulter ein strahlendes Lächeln zu, während sie ihn mit sanfter Gewalt in das auffallend unauffällige Zelt etwas abseits des Jahrmarkts zog.
Ein Schild vor dem Eingang verhieß die mystischen Dienste einer Madame Ophelia, die Interessierten einen erhellenden Blick in die Zukunft zu gewähren versprach.
Lord Wilmarth seufzte. Ihre Verlobungsreise nach Port Empériale war mit einem rauschenden Volksfest zusammengefallen. Er hätte es allemal vorgezogen, mit der Yacht eine ruhige Stelle vor der Küste anzusteuern und dort Zeit mit seiner zukünftigen Frau zu verbringen.
Doch Alandina hatte es sich nicht nehmen lassen, ihre Neugier zu befriedigen. Wilmarth gefiel dieser Wesenszug an ihr: Selbst die belanglosesten Kleinigkeiten vermochten sie so sehr zu begeistern, dass sie nicht zögerte, sich stundenlang mit ihnen aufzuhalten, um ihre verborgenen Geheimnisse zutage zu fördern. Sie tat dies mit der absoluten Gewissheit einer geborenen Schatzsucherin, die intuitiv weiß, dass sie fündig werden wird. Häufig genug konnte sie dabei nicht genau in Worte fassen, was sie wirklich fesselte, oder was sie zu finden hoffte.
Manchmal hatte Wilmarth den Eindruck, als sei es vor allem die Suche selbst, die einen derartigen Reiz auf sie ausübte. Gelegentlich ging sie ihm damit auf die Nerven, doch um ein Vielfaches häufiger war er von dem fasziniert, was sie aufstöberte. Was jedoch ihre Faszination für das Okkulte anging, prallte seine Begeisterungsfähigkeit gegen unverrückbare Grenzen.
„Deshalb gehen wir ja auch nur zu einer Wahrsagerin, wenn sie nicht aus Kaffeesatz liest, sondern aus einer Kristallkugel!“ Ihre strahlend blauen Augen funkelten entzückt. „Eine echte Kristallkugel! Ach komm schon, was soll denn passieren?“ Sie hob ihre Hand und spielte mit weit aufgerissenen Augen einen entsetzten Gesichtsausdruck vor, ehe sie theatralisch hauchte: „Ohhhh neeeein, deine Handlinien! Ich sehe den Tod in deinem Leeeeben!“
„Los, du verrücktes Huhn, bringen wir es hinter uns“, erwiderte Wilmarth lachend. Alandina war die diversen Empfänge in Wilmarths adeligen und großbürgerlichen Freundeskreisen satt, die sie anlässlich ihrer Verlobung sei nunmehr drei Tagen über sich ergehen lassen musste. Wilmarth kannte seine Verlobte gut genug, um zu wissen, dass sie die diversen Teestunden, Vesperstücke und Bankette, Theater- und Opernbesuche samt der zugehörigen Palette an Ritualen, Gesten und sonstigen Auswüchsen des ‚guten Habitus‘ im Grunde für einen Haufen austauschbarer Rituale, belangloser Unterhaltungen und sinnbefreit-zelebrierter Langeweile hielt. Ihr immer dringenderer Wunsch nach Abwechslung und gemeinsamer Zeit hatte sie – und damit auch ihn – schließlich auf den Jahrmarkt geführt.
Sie betraten ein überraschend hell erleuchtetes Zelt, in dem es längst nicht so kalt war, wie Wilmarth vermutet hätte. Der hintere Teil war durch einen Vorhang aus seidenen Tüchern und perlenbesetzten Schnüren vom Rest abgetrennt. Zahllose Kerzen in allen Formen und Größen vor und hinter dieser stofflichen Barriere ließen ungewisse Silhouetten erahnen. Selbst Wilmarth – der stolz darauf war, ein nüchtern denkender Mann ohne sentimentale Anwandlungen zu sein – kam nicht umhin, von der Einrichtung beeindruckt zu sein. Die Zeltinnenwände waren gesäumt von einer Reihe aus Beistelltischen, Truhen und tragbaren Regalen aus edlem schwarzen Holz. Viele trugen weiße und rote Kerzen wie die schimmernden Zacken einer juwelenbesetzten Krone. Goldene Lichter breiteten sich von fast fünfzig dieser bleichen Zacken aus und tauchten das Zelt in warmes Licht. Gleich tanzenden Irrlichtern auf einem seerosenbekränzten Teich bei Nacht flackerten sie in dem Luftzug, der das Zelt beim Eintreten der beiden Besucher erfüllte.
Mit vor Aufregung angehaltenem Atem flogen Wilmarths Augen über die dicken Ledereinbände der Bücher in den Regalen. Dazwischen entdeckte er mehrere Sets aus Tarot-Karten und –
„Was hab ich gesagt?“, flüsterte er Alandina zu. „Kaffeetassen.“
„Nicht zu fassen!“, neckte sie ihn. „Diese Frau trinkt Kaffee! Und schau mal! Sie kann sich sogar eine eigene Kaffeemühle leisten … oh, schau mal!“ Sie deutete auf die milchig weiße Kugel in der Mitte des Tischs. Sie war glatt wie eine Perle und besaß die Form einer perfekten Kugel mit einem Durchmesser von etwa fünfundzwanzig Zentimetern. Eigentlich hätte das Kerzenlicht sie von allen Seiten mit zärtlicher Wärme bescheinen müssen. Doch irgendwie konnte Wilmarth den Eindruck nicht überwinden, dass sie jedes äußere Licht abwies und selbst einen irgendwie unirdisch bleichen Schimmer ausstrahlte. Unwillkürlich musste er an eine gewisse Sorte Leuchtpilze denken, die er bei einem Landgang vor einigen Monaten in einer Höhle gesehen hatte. Deren kalter Schimmer hatte ihn frösteln lassen, auch wenn er tiefergehende Gedanken über den Grund dieses absurden Eindrucks nicht zugelassen hatte.
In diesem Moment gaben die Perlenschnüre des Vorhangs vor ihnen ein melodisches Rascheln von sich.
Wilmarth hatte sich Wahrsagerinnen immer als verrunzelte alte Weiber vorgestellt, die so verschroben waren wie der dubiose Broterwerb, dem sie nachgingen. Doch als er nun sah, wer diese geheimnisumwitterte Madame Ophelia wirklich war, verschlug es ihm für einige Sekunden den Atem. Er schaute geradewegs in ein Paar smaragdgrüner Augen, die seinen Blick unbeirrt erwiderten und dabei eine überwältigende Lebendigkeit ausstrahlten. Es war umrahmt von einer mitternachtsblauen Maske, die an südländischen Karneval erinnern ließ und die Form eines Eulenkopfs nachahmte.
Madame Ophelia mochte vielleicht Ende zwanzig, Anfang dreißig und damit in etwas so alt sein wie er und Alandina. Und sie war – er hätte es schlicht und einfach nicht anders sagen können – aufregend schön. Wilmarth zwang sich, nicht auf ihre Kurven zu achten, die sie durch ihr Kleid verlockend in Szene gesetzt hatte, und konzentrierte sich ganz auf ihr Gesicht. Ein spitzes Kinn unterstrich die Ausdrucksstärke ihrer Augen, und ihre Haut war zwar bleich, aber von einem Teint, der nicht an kalten Alabaster erinnern ließ, sondern eher an perfekten Marmor, der von der Sommersonne angestrahlte wird. Ihre ganze Art hatte etwas Kesses, fast Freches an sich – wie bei einem Kind, das bewusst mit gefährlichen Dingen spielt, um den Reiz des Verbotenen und Bedrohlichen auszukosten. Das Gewimmel aus blonden Haaren, das aus einem karmesinroten Kopftuch mit Goldbestickung hinab auf ihre Schultern fiel, verlieh ihr etwas Ungebändigtes. Auf Anhieb erkannte Wilmarth, dass der Gegensatz zwischen ihr und den immer sittsam gekleideten bürgerlichen Damen, die den Großteil seines weiblichen Bekanntenkreises ausmachten, nicht größer hätte sein können. Und doch wirkte Madame Ophelia nicht billig, gewöhnlich oder vulgär. Nur ein Detail passte nicht ganz in das Bild dieser ungebändigten Schönheit, das sie offenbar von sich zu vermitteln versuchte. Wilmarth blinzelte, als er glaubte, einen flüchtigen Anflug von Traurigkeit in ihrem Blick zu entdecken. Doch einen Augenblick später war er verschwunden.
„Ihr seid gekommen, um einen Blick in die Zukunft zu werfen“, sagte sie, und es war keine Frage. Ihre Stimme verhieß nicht eine Nuance Zweifel an dem, was sie anbot.
„Ich, um genau zu sein“, antwortete Alandina und zwinkerte Wilmarth zu. „Mein Verlobter glaubt nicht an Schicksal, nur an Entscheidungen.“
Mit einem Lächeln, das Wilmarth nicht deuten konnte, bot Ophelia seiner Verlobten einen Stuhl an, der mit dem Rücken zum Zelteingang stand. „Oh, es war eine gute Entscheidung, zu mir zu kommen. Ihr wollt also wissen, was Eure gemeinsame Zukunft für euch bereithält?“
Alandina warf ihrem Verlobten einen Blick zu, mit dem sie wortlos ‚Ist das nicht fantastisch?‘ sagen wollte. „Ja, bitte.“
Ophelia, die inzwischen ihr gegenüber am Tisch Platz genommen hatte, hob die Hände. Sie steckten in feinen Seidenstulpen aus Netz, die die Fingerspitzen unbedeckt ließen. Sie spreizte ihre Finger und begann, über die Kristallkugel vor ihr zu fahren, als würde sie an einem Strand feine Linien in den Sand ziehen und die Geschichte der Zukunft im Angesicht der Brandung schreiben. Ihr Blick wurde fahrig, doch ihr Mund blieb unverschlossen. Wilmarth hatte eine Reihe alberner Zaubersprüche erwartet, stattdessen –
„Eure Hand, bitte. Legt sie auf die Kugel.“
Alandina zögerte kurz, dann folgte sie der Anweisung. Ihre Finger hatten die glatte, kalte Oberfläche, die so völlig gleichgültig selbst gegen Körperwärme zu sein schien, gerade berührt, da riss Ophelia die Augen so weit auf, dass ihre Augenlider fast hinter den Äpfeln verschwanden. Sie begann, schwer zu atmen, ihr Brustkorb hob und senkte sich, und ihr Blick war unerbittlich auf Alandina gerichtet.
Du! Du bist das!“
Alandina war völlig verstört. „Was? Was meint Ihr? Madame, geht es Euch gut?“
Doch Ophelia schien sie nicht zu hören. Wilmarth kannte sich nicht mit Trancezuständen aus, doch er war sich sicher, dass Ophelias Zustand keiner war, denn die Wahrsagerin schien bei klarem Verstand zu sein.
„Du bist Alandina!“
Alandina nickte zitternd und wollte die Hand von der Kugel zurückziehen, doch Ophelias Finger schlossen sich schneller um ihre, als sie oder Wilmarth hätten reagieren können.
„Du bist es! Du wirst ihn zurückbringen!“, brachte Ophelia hervor. „Du wirst es tun!“
„Wen?“, wollte Alandina wissen.
Gleichzeitig riss sich Wilmarth aus seiner Starre los und löste die feingliedrigen Klauen dieser irren Hexe grob von seiner Verlobten. „Komm“, sagte er zu Alandina und wollte sie aus dem Zelt ziehen, „ich hab dir doch gesagt, dass das alles Humbug ist!“
Doch seine Verlobte ließ sich nicht mitziehen, riss sich los und eilte um den Tisch herum. Ophelia hatte sich in ihren Stuhl fallenlassen. Eine einzelne Träne hatte ihre üppig aufgetragene Schminke unter der Eulenmaske verwischt und eine schwarze Kajalspur die Wange hinab hinterlassen. Sehnsüchtig und hilflos, überwältigt und geschüttelt von dem, was sie zu quälen schien, sah sie zu Alandina hoch, als wäre die ihre letzte Hoffnung.
„Wen?“, fragte Alandina noch einmal. Sie beugte sich zu Ophelia herunter und strich ihr über die Wange. „Von wem sprecht Ihr? Wen werde ich zurückbringen?“
Ophelias Blick wurde plötzlich glasklar, und ein zartes Lächeln kehrte auf ihre Lippen zurück, als würde sie sich versonnen an jemanden erinnern. „Oh, du wirst ihn erkennen. Den Hexer. Und du wirst ihn nicht vergessen. Niemals wieder …“