von Clara Müller
„La Recherche“ erinnert an Lothar Barts.
Vor 20 Uhr sollte kein Einlass sein. Doch ein paar alte Damen mit strenger Miene stehen bereits eine halbe Stunde früher am Eingang. Ihre übertriebene Pünktlichkeit soll Anteilnahme zeigen. Drinnen angekommen wissen sie nicht wohin mit sich und ihren Händen. Sie kaufen schnell ein Glas Wasser oder Limonade, damit sie sich daran festhalten können. Der Raum ist so groß, dass acht Tafeltische Platz finden. Einer ist mittig vor der Bühne platziert. Dort werden die Familienangehörigen und ihre engsten Freunde sitzen. Jeder Tisch ist mit silbernen Seidenschleifen und kleinen violetten Dekosteinen festlich geschmückt, obwohl es eigentlich nichts zu feiern gibt. Noch fließen im Musiksaal Heppenbach in Belgien keine Tränen.
Nach und nach füllt sich der Saal. Umarmungen und Küsse folgen. Die Gäste kennen sich: Es sind Freunde der Familie, Verwandte der Musizierenden und Liebhaber der Musikgruppe „La Recherche“. Nadja Schorkops (44) – blond, schlank, präsent – klettert leichtfüßig auf die Bühne und greift sich das Mikrofon für die Eröffnungsrede. Ihr 16-jähriger Sohn, Youri, steht nur zwei Schritte hinter ihr, zusammen mit den 15 anderen Bandmitgliedern von „La Recherche“. Seine Augen leuchten freudig, seine Hände kann er hinter dem Keyboard nicht stillhalten. Er wippt wie ein Wackeldackel mit dem Kopf, tritt von einem Fuß auf den anderen. Am liebsten möchte er sofort loslegen. Youri hat das Williams-Beuren-Syndrom. Neben ihm sitzt Freddy Langer (49) vor seinem Schlagzeug: keine Behinderung. Davor zwei Trommler mit Down-Syndrom. Daneben ein Autist mit Rasseln. Die dürfen für den Rhythmus nicht fehlen. Dazu zwei kleine Mädchen mit geistiger Behinderung und Klangstöcken. Am rechten Rand der Bühne zwei junge Frauen, sehr hübsch zurechtgemacht. Die lockere Hochsteckfrisur sitzt bei beiden perfekt. Wahrscheinlich sind sie vorher extra beim Frisör gewesen. Keine Behinderung. Sie sind die Töchter von Lothar Barts, dem Gründer von „La Recherche“. 52 Jahre ist er geworden, bevor er an Herzstillstand starb. Nun sind sie alle hier, um Abschied zu nehmen.
Die Einführungsrede ist kurz: Nadja begrüßt die Gäste und stellt die Musizierenden flüchtig vor. Sie möchte keine großen Worte verlieren. Der traurige Anlass ist bekannt, unnötig ihn weiter auszuführen. Die Musik soll sprechen.
Das erste Lied heißt: „Heute Abend habe ich Kopfweh“. Nadja Schorkops klemmt sich hinter ihr Akkordeon. Die Töchter, Tamara (21) und Katharina Barts (25), singen, der Rest musiziert. Es klingt sauber, harmonisch und ist nicht zu laut. Fehler passieren: Die Klangstöcke werden zu oft aneinander geschlagen, die Trommel gerät aus dem Takt. Doch niemanden stört es, denn Perfektion und Disziplin stehen im Hintergrund. Der liebevolle Umgang miteinander und der Spaß an Melodie, Rhythmus und schwungvollen Klängen ist gefragt.
Heute singt, musiziert und tanzt „La Recherche“ nur für einen Mann: Lothar Barts. Er förderte die Band, kitzelte in mühevoller Kleinarbeit die musikalischen Fähigkeiten aus seinen Schützlingen heraus, bescherte ihnen Probetage voller guter Laune und Energie. An diesen Tagen vergaßen die Behinderten ihren Alltag, der ihnen oft durch Ungerechtigkeiten und so manche Probleme erschwert wird: sei es, dass Autoritätspersonen sie nicht ernst nehmen, der Sportlehrer ihnen nicht erlaubt, die Sprossenleiter hochzuklettern, oder ihre Eltern ihnen das Autofahren nicht zutrauen.
Doch innerhalb von „La Recherche“ werden sie ernst genommen und gebraucht. Jeder Einzelne an seinem Instrument ist wichtig für die Gruppe, denn ohne sein Zutun fehlt dem Musikstück ein Teil seiner Harmonie. „La Recherche“ ist ein Beweis dafür, dass eine musikalische Zusammenarbeit von Behinderten und Nicht-Behinderten problemlos über die Bühne gehen kann. Die Band ist vielseitig: Von „Abba“ bis „Ich und Ich“ ist alles dabei. Das Publikum klatscht, ist gespannt auf mehr.
Die kleine Marie Hoffmann (16) zittert. Nun ist sie an der Reihe mit ihrem Soloauftritt. Ihr rechtes Auge sitzt ihr etwas schief im Gesicht. Sie ist so aufgeregt, dass sie von Katharina zwei Mal darum gebeten werden muss, vor das Mikrofon zu treten. Das Publikum ruft ihr Mut zu.
Mit leiser Begleitung singt sie „My heart will go on“ von Celine Dion. Es ist fast perfekt. Ein paar schiefe Töne, doch darüber hört man leicht hinweg. Sie kennt ihren Text auswendig, beherrscht das Englische problemlos. Maries Stimme ist sanft, doch zu dünn, dafür aber unheimlich berührend, weshalb die ersten Tränen fließen. Marie erkennt, dass ihr Auftritt Erfolg hat. Ihre Stimme wird fester, ihre Körperhaltung entspannter. Nach lautem Applaus möchten alle eine Zugabe haben. Marie errötet. Mit so viel Anerkennung hat sie nicht gerechnet. Schüchtern stolpert sie zu ihrem Platz zurück.
Den Schluss bildet ein Duett von Tamara und Katharina. Sie singen das Lied „Dance with my father again“ von Luther Vandross. Nur ein letztes Mal ihren Vater wiederzusehen und mit ihm tanzen zu können, das wünschen sie sich. Es ist sichtlich schwer für die beiden den Text zu singen, der ihre momentane Gefühlslage so treffend widerspiegelt. Sie schaffen es nur bis zur Hälfte. Dann bricht das Lied ab. Katharina ist ihren Tränen erlegen. Tamara nimmt sie in den Arm.
„La recherche“ bedeutet übersetzt „die Suche“. Es ist die Suche nach neuen Mitgliedern, die sich genau so für das Projekt einsetzen und begeistern lassen wie die bisherigen. Jetzt ist es die Suche nach einem neuen Leiter, der das Projekt so leidenschaftlich betreut, wie Lothar Barts es getan hat.