von Pia Jantos
Wie ein „Coolness-Trainer“ jugendlichen Straftätern helfen kann, ihre Aggressionen im Zaum zu halten.
Es dämmert bereits, als der siebenjährige Simon P. vom Zigarettenholen nach Hause kommt. Er gibt die Zigaretten seinem Vater; die 10 Cent Wechselgeld behält er. 15 Minuten später: Der Vater ruft. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, die Schultern hochgezogen, geht Simon in die Küche. Ohne ein Wort packt der Vater ihn bei den Händen und zieht ihn zum Herd. Als der Junge erkennt, was mit ihm geschieht, ist es bereits zu spät. Mehrere Sekunden lang drückt der Vater Simons Hände auf die kochend heiße Herdplatte. Was 10 Cent ihn kosten können, wird Simon P. nie mehr vergessen; die Narben erinnern ihn daran – die äußeren, aber vor allem auch die inneren.
Zehn Jahre später. Simon P. wird wegen schwerer Körperverletzung angeklagt. Der Jugendliche, der mittlerweile durch wiederholte Gewalttaten auffällig geworden ist, hat nun einem 60-jährigen Mann ein gezacktes Messer in den Bauch gerammt und es in dessen Körper hochgezogen. Der Rentner musste auf der Intensivstation behandelt werden, überlebte die Tat jedoch. Auf Nachfrage des Richters, was er, Simon, von der Tat halte, antwortet dieser: „Ich bin stolz auf den Mann. Er hat die Intensivstation überlebt, das ist ein Erfolgserlebnis.“ Noch am selben Tag wird das Urteil über den 17-Jährigen gefällt. Die auferlegte Bewährungsstrafe schließt neben zahlreichen anderen Auflagen die Teilnahme an einem sogenannten Anti-Aggressivitäts-Training ein.
Dieses Training, kurz AAT, bietet Simon P. eine neue Chance. Es ist eine sozialpädagogisch-psychologische Behandlungsmaßnahme für aggressive Wiederholungstäter, die Teilnehmer selbst definieren es als „Fitnesstraining, um cooler zu werden“. Seit Anfang dieses Jahres bietet Hanjost Völker, Diplom-Sozialpädagoge, das Programm unter dem Titel „HARTherzig“ in Olpe an; er hat sich im Jahr 2011 zum staatlich anerkannten „AntiAggressivitäts- und Coolness-Trainer“ ausbilden lassen. In anderen Großstädten läuft das AAT bereits seit einigen Jahren.
Mit fünf bis acht Teilnehmern pro Gruppe und mithilfe spezieller Methoden arbeitet Völker die Gewalttaten der 14- bis 21-jährigen Jugendlichen so lange auf, bis sie die Fähigkeit der Empathie und das Verständnis für andere Menschen (wieder-)erlangt haben. Weiterhin sollen die Hemmungen, welche Gewaltausbrüche normalerweise verhindern, erneut aufgebaut werden, wobei der sogenannte „Heiße Stuhl“ eine entscheidende Rolle spielt. Hierbei soll ein Teilnehmer drei seiner zentralen Schwächen aufschreiben. Der Rest der Gruppe sucht sich eine dieser Schwächen aus und inszeniert ein Gespräch, welches den einzelnen Teilnehmer aus der Reserve locken soll. Dieser muss nun versuchen, die Provokationen acht Minuten lang auszuhalten, und soll danach seine Empfindungen und Erfahrungen mit den anderen teilen. Obwohl die Situation lediglich durchgespielt wird, fällt es den Jugendlichen gerade anfangs oft schwer, ruhig zu bleiben; besonders wenn jede normale Hemmung bei ihnen ausgeschaltet ist, wie der Sozialpädagoge zu berichten weiß. Auch für ihn ist das Training eine Herausforderung: „Es ist eine Arbeit an Tabus. Ich muss die Täter irgendwie mögen, um mit ihnen unvoreingenommen und professionell zu arbeiten, soll aber gleichzeitig eindeutige Grenzen ziehen; ich muss den Menschen verstehen, aber mit seinen abweichenden Taten nicht einverstanden sein“. Diese Haltung trägt oft dazu bei, dass die Jugendlichen sich bei ihrem Trainer gut aufgehoben und verstanden fühlen. Hier verurteilt man sie nicht aufgrund ihrer Taten, sondern versucht, ihnen eine zweite Chance zu geben. Allerdings können die Methoden keineswegs als „Kuschelpädagogik“ bezeichnet werden. „Klare Linie mit Herz“, dies bringt auch der Name des Programms „HARTherzig“ zum Ausdruck. Eine solche Einstellung den Jugendlichen gegenüber ändere oftmals schon ihre Sicht auf die Gesellschaft und deren strafrechtliche Maßnahmen, erklärt Michael Klein, Kriminalbeamter der Polizei Olpe und zuständig für Präventionsmaßnahmen. Er ist zwar nicht aktiv am AAT beteiligt, beobachtet jedoch die Entwicklung der Straftäter, von denen ihm selbst einige bekannt sind. Für ihn stellt das AAT einen wichtigen Aspekt der Arbeit mit aggressiven Jugendlichen dar. Die Erfolgsquote spricht dabei für sich. Langfristig werden 40 % derer, die ein AAT absolvieren mussten, nie mehr gewalttätig und immerhin 30 % schlagen erheblich seltener zu. Lediglich ein Drittel der Teilnehmer fällt durch.
Aus der Perspektive des „normalen“ Bürgers sieht die Lage jedoch anders aus. Vor allem Mütter und Väter sind der Meinung, dass man gemeingefährliche Gewalttäter wie Simon P. am besten für immer wegsperren müsse. „Warum sollte man dem Täter auch noch helfen, ihn sogar mögen und verstehen wollen?“ Diese Frage wird Hanjost Völker immer wieder gestellt. „Verwahren oder Wegschließen ändert nichts“, betont er dann, „diese aggressiven jungen Menschen brauchen professionelle Hilfe – wir wollen doch Opfer vermeiden“. Seiner Ansicht nach ist Täterarbeit immer auch Opferschutz, denn nur, wenn die Gewalttätigkeit eines Menschen minimiert wird, stellt er keine Gefahr mehr für die Gesellschaft dar. Sperrt man ihn jedoch ins Gefängnis, verschwindet die Gewaltbereitschaft nicht; es besteht sogar die Gefahr, dass sie noch gesteigert wird. Zudem ist erfahrungsgemäß der größte Teil der Täter, die am AAT teilnehmen, früher selbst Opfer von Gewalt gewesen, wie das Beispiel des Simon P. zeigt. Seine Flucht aus der Opfer- in die vergleichsweise angenehme Täterrolle macht deutlich, wie wenig er die schmerzhaften Ereignisse in seiner Kindheit verarbeitet hat.
Den Gründen zu der Frage, warum solch ein aufwändiges Programm für Gewalttäter angeboten wird, fügt Kriminalbeamter Klein ein weiteres, eher pragmatisches hinzu: die Kosten. Auf Dauer sei es für den Staat günstiger, einmalig die Kosten für die Teilnahme an einem AAT zu übernehmen und die Person mit einer Erfolgsquote von ungefähr 65 % wieder in die Gesellschaft einzugliedern, anstatt sie womöglich viele Jahre lang im Gefängnis zu behalten und ihre Wut und den Hass noch zu schüren.
Vielen Jugendlichen bleibt die Chance auf ein Leben ohne Gewalt allerdings verwehrt, da die Teilnehmerzahlen begrenzt sind und außer dem AAT in Olpe nur in Siegen zeitweise ein vergleichbares Programm angeboten wurde. An potenziellen Teilnehmern mangelt es jedoch nicht. Tatsächlich aber habe sich die Jugendkriminalität entgegen der in der Gesellschaft verbreiteten Annahme während der letzten zehn Jahre nicht erhöht, sie sei sogar um ungefähr fünf Prozent gesunken, berichtet der Kriminalbeamte Michael Klein. Er weist allerdings darauf hin, dass diese Angaben nicht vollkommen verlässlich seien, da die Dunkelziffer der nicht angezeigten Straf- und Gewalttaten nicht einberechnet werden könne.
Stellt man nun die Frage nach einem bestimmten Typ von Täter, so beschreibt ein Großteil auf Anhieb einen Stereotypen ohne Schulabschluss, ohne Perspektiven, womöglich mit Migrationshintergrund und mit geringem Selbstwertgefühl, was er durch Macht über seine Opfer verschleiern will. Erst, wenn man näher darüber nachdenkt, kommt man zu dem Schluss, dass es weit mehr Faktoren gibt, die zur Gewalttätigkeit führen können, und dass diese nicht nur die beschriebene Gruppe von Stereotypen betreffen; man denke an Simons Vergangenheit oder auch an Jugendliche, die im Überfluss leben und aus purer Langeweile zuschlagen. Hanjost Völker hat in den 25 Jahren, die er bereits für den Katholischen Sozialdienst in Olpe tätig ist, mit vielen jugendlichen Straftätern gearbeitet. Er kommt zu dem Schluss, dass die inneren Aggressionen eines jeden durch einen oder mehrere Auslöser in nach außen gerichtete Aggressivität umschlagen können. „Fast alle aggressiven Jugendlichen waren einst Opfer von Gewalt. Da dies jedem Kind in jeder Familie geschehen kann, besteht für jedes auch die Gefahr, später selbst gewalttätig zu werden“. Man könne dies natürlich nicht pauschalisieren, fügt der 55-jährige Sozialpädagoge hinzu; konkrete Zahlen kann er jedoch nicht nennen und beruft sich wie auch Kriminalbeamter Klein auf die Dunkelziffer. Jedes Kind verarbeite Gewalttaten anders, so Völker. Es sei zwar eine Tatsache, dass das Gewaltpotenzial durch frühe Kindheitserfahrungen stark gesteigert werde, aber insgesamt werden nur fünf Prozent der deutschen Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren straffällig und lediglich zwei Prozent massiv gewalttätig. Die recht verbreitete Ansicht des stereotypischen Täters kann also nicht bestätigt werden. Trotzdem fehlen den Jugendlichen oft tatsächlich die nötigen Zukunftsperspektiven. Hier spiele ein positives Sozialgefüge in Familie, Schule und Umfeld eine entscheidende Rolle, fügt er an.
Simon P. haben sich nun neue Perspektiven eröffnet. Er hat das AAT erfolgreich absolviert und nachdem er das Training zunächst als „Ding für Irre“ abgestempelt hatte, riss er sich zum Ende hin regelrecht darum, sich auf den „Heißen Stuhl“ setzen zu dürfen. Für ihn hat die wahre Herausforderung erst nach dem AAT begonnen. Er selbst sieht seiner Zukunft jedoch optimistisch entgegen. Seit dem Training ist er nicht mehr straffällig geworden und arbeitet seit einiger Zeit bei einer Leiharbeitsfirma. Das AAT hat ihm geholfen, ein Leben ohne Gewalt zu führen und sich einen Platz in der Gesellschaft zu erarbeiten. Dies ist sein bisher größter Erfolg.