Laute(r) Maaaas und Moooos und Korken in Tupperdosen

von Tanja Czerwenka

Edmund Stoiber, Julia Roberts, Katja Burkard und Winston Churchill – sie alle haben etwas gemeinsam und hätten sich dafür in Dortmund treffen können.

Sabine* bekommt im Flur von Dozentin Frau Ziub eine Tupperdose in die Hand gedrückt: „Kannst du bitte Hanna die Dose bringen? Sie braucht die Korken gleich für ihre Therapie.“ Schülerin Lisa ist mit einem Stein und einer Feder in der Hand unterwegs. Sie sammelt Material, mit dem sie Gegenteile darstellen kann. Nebenan im Klassenraum findet Theorieunterricht statt. Alltag im Dortmunder Institut für Logopädie.
Sabine, zierlich, lange braune Haare, dunkle Augen und eine ruhige, aber bestimmende Stimme, ist Schülerin. Anhand ihrer Größe und ihrem Auftreten erkennt man keinen Unterschied zu ihren Mitschülern, doch wenn man sie nach ihrem Alter fragt, schmunzelt sie. Sabine ist mit 45 Jahren die Älteste in ihrer Klasse. In ihrem ursprünglichen Job kann sie nicht mehr arbeiten und hat sich für eine Ausbildung zur Logopädin entschieden. Sie ist am Ende des zweiten Jahres und kommt momentan nur einmal in der Woche ins Institut. Ihre Klasse befindet sich in einem zweimonatigen Praktikum. Es ist ihnen freigestellt, ob sie trotzdem zum Institut kommen, um ihre wöchentlichen Therapiestunden abzuhalten oder nicht. „Ich mache es, weil es sowohl für mich als auch für meinen Patienten gut ist“, sagt Sabine. Insgesamt umfasst die Ausbildung drei Jahre. In dieser Zeit erlangen die Schüler Qualifikationen in drei Bereichen: Kindersprache, Redeflussstörungen und neurologische Störungen. Nach Bestehen des Staatsexamens dürfen sie sich dann staatlich anerkannte Logopäden nennen.

In allen Klassenräumen des Instituts hängen Fernseher, über die man live einer Therapie zusehen kann. Die Schüler und ihre Patienten wissen davon. Für beide ist es wichtig, dass sie kontrolliert werden, denn nur so kann der Schüler erfolgreich an seinem Patienten üben und dieser von der Therapie profitieren. Trotz allem gesteht Sabine: „Es macht mich immer etwas nervös, weil ich nie genau weiß, wie viele mir zuschauen.“ Einen Zuschauer haben die Schüler immer: den Supervisor. Er ist ein ausgebildeter Logopäde, der den Verlauf einer Therapie von Anfang bis Ende begleitet und den Auszubildenden so eine fachlich kompetente Begleitung bietet. Über die Fernseher beobachtet der Supervisor jede Sitzung, beurteilt und reflektiert diese im Anschluss mit dem werdenden Therapeuten. So wird sowohl die Entwicklung des Schülers als auch der Fortschritt der Therapie genauestens dokumentiert.

Heute arbeitet Sabine weiter an einer Stimmtherapie mit Hannes. Neben dem großen, kräftigen Mann wirkt sie klein und zerbrechlich. Man vermutet eine ebenso starke Stimme, aber falsch gedacht. Im Kontrast zu seinem lockeren Erscheinen in Jeans und Baumfäller-Hemd kommt seine Stimme eher schwach und leise daher. Genau daran arbeitet er in der Therapie mit Silke. Vielen Menschen ist gar nicht bewusst, welche Probleme die Logopädie aufgreift. Die meisten denken an Stottern oder den richtigen Spracherwerb des Kindes. Doch es gibt viele andere Schwierigkeiten, die mit einer Therapie verbessert werden können, wie beispielsweise der falsche Einsatz der Stimme. „Wenn man nicht bewusst darauf achtet, kann die Stimme Schaden nehmen“, erklärt Sabine. Das macht sich dann bemerkbar, wenn man häufig zu Heiserkeit neigt oder die Stimme nur eingeschränkt belastbar ist wie bei Hannes. Die Ausbildung habe sie sensibilisiert, sagt Sabine. Sie selbst beobachte mittlerweile viele Kleinigkeiten: den Klang der Stimme, die Aussprache, die Atmung, die Haltung und eigentlich den ganzen Menschen. So achtet sie auf den kompletten Körper, denn alles hat großen Einfluss auf unsere Stimme, die Muskeln zum Beispiel. Sind wir angespannt, macht sich das stimmlich bemerkbar. „Gerade deshalb ist es wichtig, dass in der Stimmtherapie die Sinne für die eigene Körperwahrnehmung geschärft werden“, erklärt Sabine. Nur so könne man lernen, kleinste Veränderungen in der Stimme wahrzunehmen und sie sorgsam einzusetzen, was die Grundvoraussetzungen für eine erfolgreiche Stimmtherapie seien, wie auch bei Hannes.

Sitzung mit Bewegung

Die Sitzung von Sabine und Hannes beginnt nicht direkt mit Stimmübungen, sondern schlicht mit einem Gespräch. Sabine erkundigt sich nach seiner letzten Woche und fragt wie es ihm geht. Die beiden duzen sich. Da sie in der Therapie sehr vertraut miteinander arbeiten, fühlen sie sich wohl und haben ein persönliches Verhältnis. Genau wie der Einstieg des Gesprächs eine entspannte Atmosphäre unterstützt. So erhält die Therapeutin einen ersten Eindruck von der Stimmung und Stimme des Patienten. Hannes berichtet vom Geburtstag seiner Mutter, den er vergessen hat. Die beiden lachen. Außerdem hat er versucht, die Übungen der vergangenen Woche in seinen Alltag einzubauen, und war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Diesen Punkt greift Sabine als Überleitung auf und fängt an mit Hannes Lockerungsübungen für den Körper zu machen. Sie stehen sich auf Socken gegenüber und wippen mit ihren Knien, immer stärker, bis der ganze Körper in lockere Bewegungen übergeht. Anschließend wird der Fokus auf den Oberkörper gelegt, indem die Arme pendelnd abwechselnd auf der rechten und auf der linken Seite fallen gelassen werden. Daraufhin wird der gesamte Körper mit den Händen ausgeklopft und sie setzen sich hin. Jetzt sind die Füße an der Reihe. Sie werden massiert, damit sie „munter“ werden und einen festen und bewussten Kontakt zum Boden haben. Während allen Übungen fragt Sabine immer wieder nach Haltung und Atmung und weist Hannes so auf die Lernziele hin. Auch korrigierende Hilfestellungen sorgen stets für einen engen Bezug zwischen dem Patienten und der Therapeutin. Nach der langen Aufwärmphase kommen die beiden zur Stimmübung. Hannes soll seine Stimme anhand Lautkombinationen wie „Maaaa“ und „Moooo“ zum Klingen bringen. Beide können daran erkennen, ob es Veränderungen im Klang gibt. Nach den individuell ausgewählten Übungssequenzen kann Hannes Töne mit Ökonomie, Resonanz und ohne Druck zu erzeugen. Diese Fähigkeit soll ein Ziel der Stimmtherapie sein. „Es klingt auf jeden Fall besser als in der vergangenen Woche“, stellt Hannes selbst fest und Sabine sieht das ganz genauso. Nach ein paar weiteren „Maaaas“ und „Moooos“ endet die Sitzung und Hannes bekommt wieder eine Hausaufgabe mit, da Stimmarbeit nicht mit der Therapiestunde aufhört. Sabine ist zufrieden mit dem heutigen Verlauf und der Supervisor bestätigt es in der Reflexion: „Hannes und auch Sabine machen eine gute Entwicklung durch!“

Als Nächste ist Lisa an der Reihe mit einer Therapie der Kindersprache. Ihre Patientin ist Elin, ein achtjähriges Mädchen, das einen für ihr Alter untypisch kleinen Wortschatz hat. Elin ist klein und zierlich. Ihr schwarzgelocktes Haar trägt sie zum Zopf gebunden. Mit ihrer rosa Hose, ihren pinken Schühchen und dem weißen T-Shirt sieht sie aus wie eine kleine, moderne Prinzessin. Ihr sprachlicher Entwicklungsstand wurde mit Hilfe eines Tests überprüft. So musste Elin beispielsweise anhand von Bildern Sätze bilden. Wenn eine alte Frau mit einem Buch in der Hand zu sehen ist, können gut entwickelte Kinder etwas sagen wie: Die Oma liest ein Buch. Bei Elin fallen solchen Antworten geringer aus. Sie fand nur drei Wörter: Frau liest Buch. Die Therapie soll Elins Wortschatz anreichern. „Kinder brauchen Input. Und diesen Input sollten sie über mehrere Kanäle erfahren“, erläutert Sabine. Es sei also wichtig, dass die Kinder nicht nur hören, sondern auch fühlen, riechen und schmecken. Lisa ist dabei, den Wortschatz ihrer Patientin aufzubessern und arbeitet heute mit dem Thema „Gegenteile“. Das erklärt auch, warum sie heute Morgen mit Feder und Stein über den Flur lief. Ihre Mitschüler sind im Klassenraum versammelt und schauen der Sitzung zu. Lisa lässt die Feder und den Stein gleichzeitig zu Boden fallen. Das Mädchen schlussfolgert: „Leicht und schwer.“ Es geht weiter mit süß und sauer. Hierfür hat Lisa Zuckerstücke und eine Zitrone bereitgelegt. Zusammen schmecken die beiden den Unterschied und auch hier erkennt die Patientin den Gegensatz schnell. Danach verlassen sie den Raum und gehen zu den Toiletten. Die Gegensätze warm und kalt soll sie anhand des Wassers spüren. Lisa ist bemüht, ihrer Patientin alles anschaulich zu vermitteln. Nachdem sie Begriffe gesammelt haben, wird dieser Input mit Hilfe eines Spiels weiter vertieft. Durch das Einsetzen von Bildern ist das Mädchen aufgefordert, die Gegensätze, die es sieht, selbst zu benennen. So wird neugewonnenes Wissen abgerufen und angewendet. Lisa und Elin haben noch einen langen Weg vor sich, doch Stück für Stück werden sie Fortschritte machen und die junge Patientin an ihr Ziel bringen. Für die beiden ist Vertrauen genauso wichtig wie für Sabine und Hannes. Gerade deshalb müssen sie die Erfahrungen und Erlebnisse gemeinsam machen. So wie heute mit dem Schmecken und Tasten von Gegenteilen. Elin hat Lisa immer an ihrer Seite und der ständige Austausch, der nur zwischen den beiden stattfindet, während sie etwas erarbeiten und lernen, ist für eine erfolgreiche Therapie notwendig.

Nicht jeder ist für den Beruf der Logopädie geeignet
Um den Beruf eines Logopäden ausüben zu können, müssen die Schüler aber nicht nur Sozialkompetenz und Einfühlsamkeit mitbringen. Zuerst muss man sich einer Eignungsprüfung unterziehen. Dies geschieht hauptsächlich auf stimmlicher Ebene, denn nur wer eine klare, belastbare Stimme hat, kann in diesem Bereich tätig sein. So muss man einen Ton in verschiedenen Lautstärken erzeugen können, ohne Hilfsmittel eine Tonleiter singen und aus einem Fenster laut „Hallo“ rufen, um zu sehen, ob die Stimme einer solchen Belastung standhält. Man muss Rhythmen nachklatschen und Melodien nachsingen und abschließend findet ein Testgespräch statt, das eine Therapiesitzung imitiert. Dabei präsentiert der Schüler seine Arbeitsstimme. Erst wenn die Prüfer mit allen Ergebnissen zufrieden sind, kann die Ausbildung am Dortmunder Institut beginnen. Der Weg zum staatlich anerkannten Logopäden ist nicht einfach. „Man steht unter hohem Leistungsdruck, da man im Rahmen der Ausbildung unter ständiger Beobachtung der Dozenten und Mitschüler steht“, findet Sabine. Die theoretischen Bereiche seien sehr umfangreich und setzten ein hohes Lernpensum voraus. Außerdem bezahlt man für die komplette Ausbildung rund 25.000 Euro. Der Einstieg will gut überlegt sein.

Dennoch, Logopädie ist wichtig. „Sie hat das Ziel, unseren Patienten eine bessere Lebensqualität zu verschaffen. Wir wollen, dass sie wieder ohne sprachliche Barrieren an ihrem Leben teilhaben können“, sagt der stellvertretende Direktor Kramm. In vielen Fällen können die Menschen, die nur geringe Sprechstörungen haben, gut damit umgehen. Sie sind in unserer Gesellschaft weitgehend akzeptiert. „Denken sie nur an die Moderatorin Katja Burkard von RTL. Sie lispelt und ist trotzdem eine anerkannte Person der Öffentlichkeit. Oder Herrn Stoiber. Er gehört zu den Polterern, weil er sich beim Sprechen gerne überschlägt und Wörter verschluckt“, erzählt Kramm. Julia Roberts und Winston Churchill sind – was kaum einer weiß – Stotterer. Es wird klar: Sprachprobleme ziehen sich quer durch die Gesellschaft, jeder kann betroffen sein, etwa als Folge von Schlaganfällen oder anderen Unfällen. Doch niemand muss sich damit abfinden, niemand muss sich unwohl fühlen oder schämen. Denn dafür sind Logopäden wie Sabine und Lisa da.

* Alle Namen geändert