von Mohini-Ann Ramachandran
Montagmorgen 4.00 Uhr: Kein besonderer Morgen, ein Morgen wie jeder andere auch. Louis machte ein Auge auf, sah auf den Wecker und spielte mit dem Gedanken ihn einfach klingeln zu lassen. So wie jeden Morgen. Mit einem Bein im und einem Bein aus dem Bett heraushängend, stand er widerwillig auf und schlunzte ins Badezimmer. So wie jeden Morgen.
Dort angekommen wurde erst einmal der Rotwein vom Vorabend in die Freiheit entlassen. Als er sich das Gesicht nach dem Waschen abtrocknete, sah er in den Spiegel und stellte fest, dass er mit seinen gerade mal 47 Jahren schon ziemlich viele graue Haare hatte und die Haut an seiner rechten Wange sich zu pellen begann. Der Anblick erinnerte ihn an ein Stück Backobst. Seine äußerst abstoßende von Pickeln besetzte Visage schien ihm eine Bestätigung dafür zu sein, dass er in diesem Leben wohl keine Frau mehr abbekommen würde, zumindest keine, die es ernst mit ihm meinte.
Nachdem er sich angezogen hatte, ging er in die Küche und setzte Wasser auf um sich einen Instantkaffee zu machen, einen, der zwar nicht besonders gut schmeckte, aber immerhin nur 1,99 gekostet hatte. So wie jeden Morgen. Während das Wasser kochte, fuhr er seinen Laptop hoch und schaute die Nachrichten vom Vortag. Was dort passierte, nahm er zwar zur Kenntnis, es bewegte ihn jedoch nicht großartig. Die Probleme anderer Leute interessierten ihn nicht, er hatte schließlich genug eigenen Kram um den er sich kümmern musste. Zu seinem Kaffee gab es Fruit Loops, laut Wanda Sykes „-The most overrated Cereal“, die seinen ohnehin schon kariösen Zähnen sehr zu Gute kamen. So wie jeden Morgen.
Um 4.30 ging er zur Arbeit. So wie jeden Morgen. So ging es nun schon seit vielen Jahren, mit Ausnahme von Weihnachten und Ostern und eine Veränderung war nicht in Sicht. Sein Weg führte über einen Bahnübergang, den er gerne nutzte um die Zeit bis zu seiner Ankunft etwas hinauszuzögern. Ob er dies Tat, um etwas Nervenkitzel zu verspüren oder einfach nur darauf hoffte, dass der Zug ihn endlich erwischte, wusste kein Mensch. Dort saß Viola, Urmutter all derer, die von der Norm abwichen und deshalb unerwünscht waren in ihrer Wohnung im obersten Stock des Gebäudes direkt gegenüber und beobachtete ihn aus der Vogelperspektive. Sie kramte in ihrem Kulturbeutel und fragte: „- Warum macht er das? Ist das nun bewundernswert oder einfach nur hirnrissig?“
„- Lackier dir die Nägel!“ – Fluchte Louis und ging starren Blickes weiter. Auf der Arbeit angekommen, ging er schnurstracks auf seine Maschine zu, setzte sich und tat, was zu tun war. So wie jeden Tag. Während der gesamten Arbeitszeit, sprach er mit niemandem und verzichtete auf seine Pause, Gespräche mit den Kreaturen, die dort herumliefen, waren für ihn nur Zeitverschwendung.
Acht Stunden später: Sein Sitzfleisch und sein Rücken waren durch die klapprigen Holzstühle, die ihnen dort zur Verfügung standen, stark strapaziert worden. Er schmiss sich eine Schmerztablette ein, spülte sie mit einem Schluck Whisky aus seinem Flachmann, der sich zu jeder Tages- und Nachtzeit in seinem Spind befand, herunter und machte sich ohne großes Gelaber auf den Heimweg. So wie jeden Tag. Er legte ihn mit schnellen Schritten und einem starren Blick nach vorne zurück, denn es gab ja sowieso nichts zu sehen.
Die Straßen waren voller Schlaglöcher, der Verkehr nicht besonders geordnet. Eigentlich wusste niemand so genau, warum es dafür überhaupt Regeln gab. Die Leute (Louis miteingeschlossen) hatten die schlechte Angewohnheit, ihren Müll überall da zu entsorgen, wo es gerade passte, weshalb die Straßen nicht nur schlecht ausgebaut, sondern auch vollkommen zugemüllt waren. Zudem sah man in jeder verdammten Ecke ein halbes Dutzend Straßenhunde, von denen man nicht wusste, was für Krankheiten sie mit sich herumschleppten. Louis hatte sich als kleine Freizeitbeschäftigung selbst einen angeschafft, Johannes wie der Täufer. Hierzu muss gesagt werden, dass dies nicht ganz freiwillig geschehen war. Johannes hatte vielmehr an Louis Tür „geklopft“ und die geistig unbewegliche Kühltruhe mit seinen großen braunen Hundeaugen weichgekocht.
Zu Hause angekommen sprang er unter die Dusche. Nachdem er sich wieder gesellschaftsfähig gemacht hatte, ging er erneut los. Diesmal, um sich mit seinem langjährigen Freund Bud und dessen Langzeitfreundin Limo in ihrer Stammkneipe zu treffen. Im Großen und Ganzen waren Bud und Limo Louis‘ einzige Freunde, bis auf Frankie. Frankie, dessen linker Fuß aufgrund einer Wundheilungsstörung amputiert worden war, weshalb Frankie sich des Öfteren mit dem großen Lehrer Kunta Kinte verglich. Viola sah sich das an, zog ihre Augenbrauen nach und schüttelte den Kopf, denn Frankie glich Kinte in keinster Weise. Vor der Kneipe saß er auf der Treppe und bat jeden, der an ihm vorbei ging, um eine Spende für seine angebliche Tochter, die noch kein Schwein zu Gesicht bekommen hatte. So wie jeden Tag. –„Hey Louis altes Haus, eine Spende für die Prinzessin? Du hast doch ohnehin niemanden, der auf dich wartet, kannst sicher was entbehren.“ – Sagte Frankie, so wie jedes Mal.
Bud, mit Nachnamen Weiser und Limo, mit Nachnamen Nade, warteten bereits auf Louis. Schon seit acht Jahren trafen sie sich fast jeden Abend hier in der Kneipe. Sie hatten zwar nicht viel zu sagen, denn sie waren beide taubstumm, aber immerhin war jemand da. Als Louis sich hin und wieder umdrehte, sah er die verliebten Pärchen tanzen. Dieser Anblick bereitete ihm, dem wohl letzten noch lebenden Dinosaurier, einen gewaltigen Kotzreiz. Gelegentlich fragte er zynisch: -„Na n‘ Glas Milch, Püppi? Und für deine Perle hab ich auch was. Ich kann hervorragend Zöpfe flechten.“ Violas Augenbrauen sahen inzwischen richtig gut aus. Sie zog den finalen Lidstrich, sah zu Louis hinunter und kommentierte: –„Dieser alte Kotzbrocken! –„Halts Maul du blöde Kuh!“ – Erwiderte Louis.
An ganz guten Tagen brachte er seine Freundin mit nach Hause. Sie hieß Maria. Nö, vielleicht doch Eva. Oder doch Delila? War es nicht Salome? Nein, Moment Serena. So genau wusste man es nicht, aber es ging etwas Bedrohliches von ihr aus. Sie hatte das Zeug dazu, ihm seinen Groove zu zerstören, würde er sie nur nah genug an sich heranlassen, weshalb er bis auf die wenigen gemeinsamen Nächte, einen äußerst großen Sicherheitsabstand zu ihr einhielt. Sie war die Tochter einer Schwarzen und eines Kubaners. Dieser hatte sich allerdings direkt nach ihrer Erschaffung aus dem Staub gemacht und hatte nie gesehen, was er in jener Nacht so fabriziert hatte. Sie war um einiges jünger als Louis, irgendetwas zwischen 16 und 19 vermutlich. Was die meisten prüden Geister für moralisch verwerflich halten mögen, nannten sie beide jedoch „die inneren Werte eines Menschen erkennen“. Sie war schlank, circa 1,70 groß, hatte lange braune Haare, weinrote Lippen und schielte etwas.
Der Eingang des heruntergekommenen Gebäudes von dem Louis immer zu sagen pflegte: – „Das sieht nur von außen so aus, voller Kotze. Irgendjemand hatte es wieder einmal nicht mehr zeitig zum Klo geschafft. So wie fast jeden Abend. Wiederum andere hatten es scheinbar nicht mehr zeitig ins Bett geschafft und es deshalb vorgezogen, ihre wirklich TIEFgehenden Gefühle füreinander mit den restlichen Bewohnern des Hauses zu teilen. Des Weiteren war so manch ein besoffener Familienvater zu hören, wie er seine Alte wegen irgendeiner Banalität verprügelte und sie nur sagte: -„Schatz, denk an deine Kinder.“ So wie fast jeden Abend. Viola zog ihren roten Lippenstift nach und sagte zynisch: – „Bah, und für so etwas heiratet man. Hauptsache man muss nicht alleine schlafen.“
In der Wohnung schlüpfte Louis‘ Freundin zugleich in eine der Rollen, die er ihr zugewiesen hatte. Als Eva schnitt sie ihm einen Apfel. Als Maria setzte sie sich auf sein Gesicht. Als Delila streichelte sie ihm über den Kopf. Als Salome tanzte sie auf nackten Füßen, als Serena lullte sie ihn ein. Trotz ihrer engelsgleichen Stimme und ihres verlockenden Aussehens, schien sie doch von den sieben Dämonen besessen zu sein. Hochmut, denn sie hatte keine Hemmungen, über weniger schöne Menschen herzuziehen, natürlich zum Zwecke der Selbstaufwertung. Habgier, denn sie liebte Champagner und Erdbeeren auf anderer Leute Kosten. Wollust, denn die Gier der schönen Nymphe war unersättlich. Neid, denn sie verabscheute jeden, der ihr in Punkto Schönheit überlegen war, weshalb von einem Zusammentreffen mit Viola eher abzuraten war. Völlerei, denn sie liebte Schokolade, Zucker und überhaupt jeglichen Luxus. Zorn, denn die Undine konnte leicht zur Alecto mutiere, wenn mal etwas nicht nach ihrer Nase lief. Faulheit, denn sie vertrieb sich die Zeit lieber mit einsamen oder verheirateten Männern, statt sich um ihre Zukunft zu kümmern. Viola musterte sie von oben bis unten, cremte sich ihre faltigen aber dennoch sehr schönen Hände ein, verdrehte die Augen und sagte: -„So ein arrogantes Stück Scheiße.“
All dies war Louis bewusst, weshalb er sie nie bei sich schlafen ließ. Jedes Mal, wenn sie sich trafen, sang er sich im Kopf ein selbst verfasstes Liedchen vor:
–„Gib Acht auf deinen Kopf, auf deinen schönen grauen Schopf, denn passt du auf ihn nicht auf, dann reißt sie dir die Augen aus. Gib Acht auf deinen Kopf, auf deinen schönen grauen Schopf, denn passt du auf ihn nicht auf, dann reißt sie dir die Augen aus.“
-Die einzigen zärtlichen Worte, die er für sie übrig hatte waren:
„-Mach das Licht aus wenn du gehst und bestell deiner Mama einen schönen Gruß. Sag ihr sie soll mich mal besuchen kommen. Vielleicht kommt sie ja irgendwann wieder zurück zu mir.“ – Hiermit schloss er die Augen und schlief mit geöffnetem Mund und schwerem Atem ein. Doch nicht heute Abend. Viola zündete sich eine Zigarette an, verschränkte die Arme vor ihrer Brust und schüttelte den Kopf: – Wieso tut er sich das immer wieder an. –„ Halt die Klappe du Schlampe ich will pennen.“ – Erwiderte Louis.
Dienstag halb 4 morgens: Louis kam wieder von der Kneipe. Als er das hässliche Gebäude betrat, saß auf der Treppe, die zum dritten Stock führte Tyrone, sein neunjähriger Neffe…