Dead Man Walking – Teil 1

von Andreas Hohmann

 

Sein Name ist John Barrett, und er ist einzigartig. Weil er es als erster Mensch seiner Zeit geschafft hat, einen Polarwinter lang allein im arktischen Eis des Nordens zu überleben. Wie – das weiß niemand.

Dem Tod im Eis mit – wenn auch noch so knapper – Not entkommen zu sein, macht ihn drei Jahre später interessant für eine Forschungsexpedition unter der Leitung des Professors Dr. Dr. Emil Kanthorst. Ziel der Reise ist die legendäre Nordwestpassage – ein geheimnisumwitterter Seeweg genau in jener Region der Welt, in der John einst um sein Überleben kämpfen musste. Ob er den Weg kennt, weiß der Professor nicht. Denn John ist ein äußerst verschlossener Mensch. Aber er kennt die Gegend, viele ihrer Geheimnisse und die meisten ihrer lebensbedrohlichen Tücken.

Infolge seiner jahrelangen Reisen entwurzelt, knapp bei Kasse und ohne Perspektive, lässt sich John widerwillig auf die Expedition des Professors ein. Dass er überhaupt zusagt, liegt vor allem an Fernando Degaine und Luna McTye, zwei alten Bekannten, die ihm am Herzen liegen. Nach mehreren Monaten beschwerlicher Seereise erreicht die Expedition den winterlichen Küstenort Port Vernon. Erst dort wird John bemerken, dass eine zweite Expedition mit der des Professors um die Entdeckung der Nordwestpassage konkurriert. Es wird ein Landgang mit Folgen …

 

*

 

Dead Man’s Inn heißt die Taverne. Mein Blick wandert durch den Schankraum: Er ist überfüllt, es ist stickig und es stinkt nach billigem Fusel.

Charmant, denke ich flüchtig. Ich hasse Enge.

Die meisten Tavernen der Region sind nach einem ähnlichen Grundriss angelegt: Sie umfassen einen zentralen Schankraum mit diversen kleinen Anbauten, in denen sich Ecken und Nischen für solche Gäste befinden, die Privatsphäre schätzen. Nicht, dass es hier oben im Norden allzu viele von ihnen gäbe. Aber wenn sie kommen, zahlen sie gut – vor allem, weil ihnen keine Wahl bleibt, wenn sie schon auf Geheimhaltung angewiesen sind. Das Leben hier oben ist hart, und die Wirte wollen ihre Familien durchbringen. Sie sind nicht gierig. Sie sind, was sie hier oben sein müssen.

Die dick beschlagenen Fenster des Raumes sind trüb vor Schmutz. Mit ihren wuchtigen Rahmen, die in die massiven Steinwände eingesetzt sind, erinnern sie mich an nachträglich verglaste Schießscharten in den Mauern einer düsteren, mittelalterlichen Trutzburg.

Noch durch die Dreckschicht hindurch kann ich erkennen, dass die winterliche Nacht draußen inzwischen alles Tageslicht verschlungen hat. Mit Unbehagen höre ich den erbarmungslosen Wind gegen die Scheiben hämmern. Und dann dieses widerliche Pfeifgeräusch, das dieses Trommelfeuer begleitet … Es lässt mich zurückdenken an die gottverdammte, endlose Polarnacht mit ihren reißenden Winden, die bloße Haut binnen Stunden zerreißen wie die hungrigen, geifernden Sturmdämonen aus den Ammenmärchen der Inuit. Mir wird übel, als die Erinnerung an all das wie Galle in mir hochkommt. Nur mit viel Mühe kann ich mich in die Wirklichkeit zurückrufen.

Es dauert ein paar Herzschläge, bis meine Gedanken wieder halbwegs klar werden. Dann, auf einmal, kommt mir die völlig überfüllte Schankwirtschaft gar nicht mehr so – Überfüllt! Warum fällt mir das erst jetzt auf? Warum zum Henker sind hier so viele Menschen? Mit Mühe zwinge ich meinen Verstand zu einer gewissen Distanz zu dem, was ich sehe.

Zu dieser Jahreszeit sind normalerweise noch keine Pelzjäger auf der Rückreise von ihren ausgedehnten Jagdzügen. Und irgendwie kann ich mir auch nicht vorstellen, dass sich sämtliche Bewohner dieses Kaffs ausgerechnet hier in dieser Spelunke treffen. Nur: Mehr Erklärungen für die entschieden zu zahlreichen Besucher gibt es nicht.

Zu viele Leute zur falschen Zeit.

Endgültig argwöhnisch werde ich in dem Moment, in dem mein Blick auf ein Individuum fällt, das inmitten der Menge völlig für sich allein steht. Es trägt einen Kapuzenmantel. Und es ist nicht allein. In unterschiedlich großen Abschnitten bemerke ich weitere, die ähnlich gekleidet sind. Sie erinnern mich irgendwie an die vermummten, schwere Regenmäntel tragenden Fischer auf einem Trawler bei Sturm. Kein Zweifel: Sie und der Großteil der Anwesenden sind nicht von hier. Wie wir.

Im Grunde gibt es für Fremde nur drei Anlässe, überhaupt in den Norden zu kommen: Entweder, sie sind Angehörige eines Kriegsschiffs auf Patrouille. Aber ein Kriegsschiff in diesen Gewässern müsste groß, widerstandsfähig und mit genügend Transportkapazitäten ausgestattet sein, um sich über Monate hinweg selbst versorgen zu können. Aber dann könnte es sich in einem so kleinen Hafen wie Port Vernon unmöglich verstecken.

Möglichkeit zwei: Sie gehören einer der großen Handelsgesellschaften an. Aber dafür ist es zu . . . irgendwas stimmt hier nicht. Es ist schwer zu sagen, aber irgendwie ist die Stimmung zu gespannt für einfache Handelsreisende.

Oder aber . . . sie sind aus dem gleichen Grund hier wie wir. Eine andere Expedition. Voller Misstrauen kneife ich die Augen zusammen und suche nach Anhaltspunkten dafür, dass ich mit meinem Verdacht richtig liege. So viel gibt es im Norden nicht zu entdecken. Das einzig wertvolle … wäre so manchem einen Mord wert. Oder mehrere.

Fernandos Hand, die sich unvermittelt auf meine Schulter legt, verhindert letzteres. „Alles in Ordnung?“, will er wissen.

Kurz denke ich darüber nach, ihn in meine Gedanken einzuweihen. Doch da die übrigen Mitglieder unserer Expedition direkt hinter uns in die Taverne eingetreten sind, würden sie alles mitbekommen. Das würde nur für Getuschel sorgen. Und das wiederum würde uns verdächtig machen. Wenn sich der Verdacht, der mir wie ein Schemen durch den Kopf spukt, bewährt, dann müssen wir so unauffällig wie möglich bleiben.

„Müde.“, antworte ich Fernando mit gespielter Ermattung. In Wahrheit bin ich hellwach.

Ich überlasse es dem uns nachfolgenden Professor Kanthorst, den Wirt um einen der abseits gelegeneren Tische zu bitten. Beide unterhalten sich kurz, ehe der Professor mit einem Ausdruck tiefen Unverständnisses zu seiner Geldbörse greift. Offensichtlich hat er sich keine Gedanken darüber gemacht, dass Sonderwünsche auch hier oben ihren Preis haben. Akademiker …

Schweigend folge ich meinen übrigen Gefährten an den gewiesenen Tisch. Er steht halb in einer Nische und ist zudem durch einen massiven Stützbalken abgeschirmt. Die Deckung ist dürftig . . . aber andererseits rechnet, selbst angesichts des trommelnden Sturms draußen, wohl niemand mit einem plötzlich niederprasselnden Kugelhagel. Der Platz wird genügen, um weitgehend unbeobachtet zu bleiben. Für den Augenblick zumindest.

„Bemühen wir uns um Verköstigung.“, schlägt der Professor schließlich in seiner gewohnt gestelzten Art vor. Man sieht ihm an, dass er keine Lust darauf hat, erneut mit dem Wirt sprechen zu müssen. Doch ein leerer Magen – selbst ich habe ihn schon vor einer halben Stunde rumoren gehört – bringt ihn offenbar dazu, seine Prioritäten zu ordnen. Der Blick, den er in Richtung Tresen wirft, bleibt trotzdem kalt. Kurz frage ich mich, ob Wissenschaftler wohl anders fluchen als normale Menschen.

„‚Essen‘, verdammt – sag einfach ‚Essen‘!“, zischt Fernando mir ins Ohr. Er versucht wohl, mich auf andere Gedanken zu bringen, und benutzt dafür seine Abneigung dem Professor gegenüber.

„Gewiss wird es nicht erforderlich sein, dass wir alle gehen, aber vielleicht . . .“, beginnt Kanthorst von Neuem. Er nennt einige Namen. Alle anderen tragen diesen Leuten ihre Essenswünsche auf. Ich bestelle Huhn. Beilagen wird es für alle geben, zumindest war das hier beim letzten Mal noch so. Eigentlich ist es mir auch egal. Ich habe gerade dringendere Sorgen.

Mit leeren Augen schaue ich Luna und Fernando nach. Sie begeben sich gerade zum Tresen. Ich weiß nicht, was mir dieser Anblick sagen soll. Ich weiß aber, was er mit mir macht. Er tut weh. Ich weiß nicht mal, ob der Schmerz dumpf oder stechend ist. Was ich fühle, ist gefährlich, und seitdem ich aus dem Eis zurückgekehrt bin, weiß ich das sicherer denn je: Sehnsucht.

Ich würde alles dafür geben, bei ihnen zu sein … einfach bei ihnen, Teil ihrer Welt sein, ihnen irgendwas bedeuten. Alles ist besser, als … Meine Miene ist noch immer unbewegt, starr, steif. Seit diesem verfluchten Winter, den ich im Eis gefangen war, habe ich das Gefühl, dass meine Mimik abgestorben ist. Es ist so schwer, jemandem begreiflich zu machen, wie man fühlt – oder dass man überhaupt fühlt -, wenn es nicht sichtbar ist. Verdammt, es fällt mir ja schon schwer, das überhaupt in Worte zu fassen!

Hilft nichts … Die übrigen Mitglieder der Expedition tuscheln bereits untereinander, aber sie ignorierten mich. Für sie bin ich wohl immer noch nichts anderes als dieser schräge Typ, der zu lange allein im Eis war: absonderlich, nicht Teil ihrer Welt, nicht einmal ihrer Häme, höchstens ihrer unbewussten Verachtung wert. Ich zucke die Achseln, wenn auch nur innerlich. Wenn ich eines gelernt habe, dann das: Wer einen anderen bekämpfen oder ignorieren will, wird sich durch nichts davon abbringen lassen.

Langsam beuge ich mich vor, stütze die Ellenbogen auf dem Tisch und das Gesicht mit den Händen ab, starre scheinbar dumpf in die Flamme der Kerze vor mir und bemühte mich, möglichst teilnahmslos auszusehen. Das genügt vielleicht schon, um nicht verdächtig zu wirken. Vorsichtig beobachte ich die Menge, in deren Mitte ich die Bedrohung vermutete.

Gerade frage ich mich, wo zum Teufel diese Kapuzenmantelträger sind, da –

„John?“

 

… Fortsetzung folgt