von Andreas Hohmann
Sein Name ist John Barrett, und er ist einzigartig. Weil er es als erster Mensch seiner Zeit geschafft hat, einen Polarwinter lang allein im arktischen Eis des Nordens zu überleben. Wie – das weiß niemand.
Dem Tod im Eis mit – wenn auch noch so knapper – Not entkommen zu sein, macht ihn drei Jahre später interessant für eine Forschungsexpedition unter der Leitung des Professors Dr. Dr. Emil Kanthorst. Ziel der Reise ist die legendäre Nordwestpassage – ein geheimnisumwitterter Seeweg genau in jener Region der Welt, in der John einst um sein Überleben kämpfen musste. Ob er den Weg kennt, weiß der Professor nicht. Denn John ist ein äußerst verschlossener Mensch. Aber er kennt die Gegend, viele ihrer Geheimnisse und die meisten ihrer lebensbedrohlichen Tücken.
Infolge seiner jahrelangen Reisen entwurzelt, knapp bei Kasse und ohne Perspektive, lässt sich John widerwillig auf die Expedition des Professors ein. Dass er überhaupt zusagt, liegt vor allem an Fernando Degaine und Luna McTye, zwei alten Bekannten aus Schul- und Studienzeiten. Sie sind die einzigen vertrauten Menschen, die ihm noch geblieben sind.
Nach mehreren Monaten beschwerlicher Seereise erreicht die Expedition den winterlichen Küstenort Port Vernon. Erst dort wird John bemerken, dass eine zweite Expedition mit der des Professors um die Entdeckung der Nordwestpassage konkurriert. Es wird ein Landgang mit Folgen …
*
Fast wäre ich mit Luna McTye zusammengestoßen, die auf ihrem Weg zurück zu uns zwischen Säule und Wand angehalten hat.
Meine Gesichtszüge werden steinern, als ich bemerke, dass sie mich wieder auf ihre eigenartige Art ansieht. Ich versteife mich komplett. Das habe ich nicht gewollt. Es geschieht einfach – wie von selbst, wie bei einem natürlichen Reflex. Wie es seit meiner Rückkehr aus dem Eis immer passiert, wenn ich angestarrt werde.
Lunas Augen sind fest auf die meinen geheftet, als würden sie geradewegs auf den tiefsten Grund meiner Seele blicken. Nichts in mir – so kommt es mir vor – kann vor ihnen verborgen bleiben. Sie funkeln wie strahlend helles Sommerlicht, das sich auf ihrem Marmorgesicht spiegelt. Wieder fällt mir auf, wie weich ihre Gesichtszüge sind. Sie blinzelt nicht ein einziges Mal. Stattdessen tritt langsam wieder dieser Ausdruck aus erwartungsvoller Neugier in ihren Blick.
„Du verlässt uns?“, fragt sie mit ihrer märchenhaft sanften, und doch so deutlichen Stimme.
Mein Blick fällt auf ihre Hände, die eine Schüssel mit gebratenem Huhn halten. Ich erinnere mich gut genug an die Bestellungen aller Leute aus unserer Expedition, um zu wissen, dass nur ich selbst darum gebeten habe.
Sie hat an mich gedacht! Was in der Schale ist, habe ich schon wieder vergessen. Wen interessiert schon der Fraß? Sie hat an mich gedacht – vor allen anderen.
Etwas erfasst mich. Es ist einfach da, überkommt mich und fegt alle Kälte in meinem Inneren weg wie ein Orkan die spröden Mauern zerfallender Häuser. Einen Augenblick lang habe ich das Gefühl, als könnte ich mich einfach so in ihren Augen verlieren. Als wäre meine Seele ein verstaubtes Zimmer und sie reißt die Fenster weit auf und lässt frische Frühlingsluft und Maiwärme hinein. Als könnte ich nur dadurch, dass sie da ist, die Bedrohung um mich herum vergessen.
Ich zwinge mein wie festgefrorenes Gesicht zu einem Lächeln, ehe ich antworte: „Nur für den Augenblick. Jemand will mich sprechen.“
Sie lächelt noch immer. „Sei vorsichtig, ja?“
Ich nicke. „Werde ich.“
Ich weiß nicht, warum es nun genau in diesem Moment passiert ist, und es kümmerte mich auch nicht. Erst jetzt wird mir etwas klar: Seit dem Beginn unserer Reise hat Luna versucht, sich mit zahlreichen kleinen Gesten bei mir bemerkbar zu machen. Sie waren so unscheinbar, und doch so . . .
Allein, um sie nicht zu gefährden, werde ich das hier allein auf mich nehmen, muss ich unwillkürlich denken.
Das ist es. Jetzt ist wirklich alles gesagt.
Der magische Augenblick ist vorüber. Ich bin wieder der John Maynard Barrett, der ein Jahr in der polaren Einöde überlebt hat, fernab der Zivilisation, auf sich allein gestellt und ohne Hoffnung auf Überleben. Es ist wie ein im Sturm tobendes Eismeer, das mich durchflutet. Das ist der Preis dafür, dass ich Luna mit ihrer Wärme an mich herangelassen habe. Nun muss ich sie verdrängen, um sie zu beschützen.
Mit der inneren Kälte kommt die Abgeschiedenheit.
Der Lärm im Schankraum wird zu einem entfernten Geräuschpegel, unverkennbar noch da, aber zurückgedrängt in eine wenig beachtete Region meines wachen Bewusstseins. ‚Innere Einkehr‘ nennen die Inuit-Stämme des Nordens dieses Phänomen: Wenn die Außenwelt zusammenschrumpft auf ein nebensächliches Faktum, dann werden die Sinne umso mehr geschärft. Das wird mir jetzt helfen. Ich spüre es.
Mein Puls beschleunigt sich, bis ich mich fühle wie kurz vor einer Seeschlacht. Es ist wie in jenem letzten, nervenzerfetzenden Moment, bevor sich zwei Mannschaften in dem rohen Gewaltexzess eines plötzlichen Enterkampfs aufeinander stürzen. Meine Miene wird kalt und hart, mein Mund zu einer schmalen Furche, meine Augen werden stechend.
Noch einmal suche ich die Menge nach den Kapuzenmantelträgern ab. Doch sie sind wie vom Erdboden verschwunden.
Verdammt, ich bete, dass sie harmlos sind!
Luna sieht mir immer noch nach, als ich gehe. Sie merkt nicht, dass ich es bemerke, weil ich unseren Tisch aus den Augenwinkeln noch im Blick habe. Ihre Augen folgen mir bis zu der Tür zum Hinterhof. Sie ist allein in der Menge. Im allgemeinen Durcheinander geht unter, wie Besorgnis über ihr Gesicht huscht.
… Fortsetzung folgt