Die perfekte Komposition

von Miriam Richter

Fast wie auf einem Gemälde schlängelte sich der Mondschein durch die kahlen Äste des schneebedeckten Waldes. Es war eine ruhige, klare Nacht. Nicht eine Wolke erstreckte sich am Himmel. Nur ein einziges Geräusch störte die angenehme Stille. Ein junger Mann joggte den Waldweg entlang. Rhythmisch waren seine Schritte und sein flacher Atem zu hören. In seinem leicht abgenutzten, weißen Jogginganzug passte er sich perfekt seiner Umgebung an. Einzig der rote Streifen an seinen alten Nike-Turnschuhen zeugte davon, dass er nicht zu den vielen Gewächsen gehörte, die den mit lockerem Schnee bedeckten Weg, auf welchem er mit jedem Schritt deutliche Spuren hinterließ, säumten. Er war völlig in seinem Lauf versunken. Dennoch blieb er unverhofft stehen, als er auf einer kleinen Lichtung ankam, und drehte sich um. Er schien etwas im Geäst zu suchen. Gedankenverloren strich er sich mit der Hand durch das verwuschelte schwarze Haar, das im Mondschein leicht schimmerte. Dann seufzte er kaum merklich auf und lief weiter. Nach kurzer Zeit hielt er erneut an. Seine hellen Augen wurden schmal, als er angestrengt in den stummen Wald lauschte. Einen kurzen Moment verharrte er so, dann rannte er weiter. Schneller diesmal. Sein Blick huschte hektisch von links nach rechts, ohne etwas Bestimmtes zu fixieren.

Er steigerte sein Tempo immer mehr. Beinahe hatte er es geschafft. Beinahe entkam er diesem Wald. Urplötzlich riss ihn eine unbekannte Macht nach hinten und ließ ihn den kalten Boden am ganzen Körper spüren. Sein feines Gesicht stark gerötet, starrte er angsterfüllt nach oben.

Vom Mondschein geblendet, sah er nur die Umrisse einer dunklen Gestalt, die sich über ihn beugte. Sie strich ihm leicht über die Wange. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Sie funkelten wie Diamanten. Seine roten Lippen waren weit geöffnet, doch es entwich ihnen kein Schrei. Die hellgrauen Augen, nein, bei näherer Betrachtung erschienen sie blau, waren weit aufgerissen. Sie spiegelten sich in der silbernen Klinge. So schön. Es sah so schön aus. Die perfekte Komposition. Der Schnee, das Mondlicht, das schwarze Haar, die roten Lippen, das Blau seiner Augen, alles sah perfekt aus.

Fast. Etwas fehlte noch.

Mit einem Ruck ging die Klinge Richtung Boden. Der gerade noch angstverzerrte Blick füllte sich mit plötzlicher Schwärze. Aus der langen Schnittwunde quoll eine klebrige, rote Flüssigkeit. Sie breitete sich langsam im Schnee aus. Die dunkle Gestalt richtete sich auf und lächelte.
„Warum lächelte sie? Sie hat gerade etwas unfassbar Schönes zerstört.“
„Wieso sollte sie nicht lächeln? Sie hat doch ihre perfekte Komposition erreicht.“
„Nein, hat sie nicht. Die Schönheit lag im Leben. Da sie das ausgelöscht hat, ist die ganze Komposition vernichtet“, der junge Mann blickte selbstsicher zu seinem Gegenüber.

Peter, ein bereits etwas in die Jahre gekommener Herr, hatte sich beim Wandern verlaufen und war auf Marc gestoßen. Marc war der Förster dieses Waldstücks, in etwa Mitte zwanzig mit kurzen braunen Haaren und tief grünen Augen. Er war sehr attraktiv, auch wenn Peter fand, dass er für einen Mann seines Alters recht zierlich gebaut war.
Peter selbst dagegen war groß und stämmig. Auch wenn er sich für seine 58 Jahre ziemlich gut gehalten hatte, sah man doch, dass er viel erlebt hatte. Um seine braunen Augen und seinen schmalen Mund waren viele kleine Fältchen zu sehen und sein früher dichtes, dunkles Haar lichtete sich allmählich.

„Also, ich muss zugeben, da scheint etwas Wahres dran zu sein. Aber wenn die Komposition nur ein Augenblick ist? Dieser eine Moment zwischen Leben und Tod?“
„Kann ich mir nicht vorstellen.“
Peter lachte in sich hinein. Die Jugend von heute. Kein Sinn für Romantik.

Die beiden hatten sich vor dem aufkommenden Schneesturm in eine kleine, etwas verkommene Schutzhütte gerettet. Obwohl die meisten Unterstände relativ einfach gehalten waren, verfügte diese sogar über ein paar Möbel und einen Kamin, in welchem bereits ein Feuer knisterte.

Peter hatte in einem großen, sehr abgenutzten Sessel, der einzigen Sitzgelegenheit, Platz genommen. Marc hatte darauf bestanden. Er selbst saß auf den Boden. Um sich die Zeit zu vertreiben, hatten sie angefangen, einander Gruselgeschichten zu erzählen.

„Sag mal, Peter, hat diese Geschichte vielleicht einen realen Hintergrund?“
„Wie kommst du darauf?“
„Du hast sie so glaubwürdig erzählt. Schon die Idee, jemanden zu töten, nur um sein eigenes Verlangen zu stillen und weil man Spaß daran hat, ich könnte mir so etwas nicht ausdenken.“
„Ich glaube, du hast die Geschichte falsch verstanden.“
Marc sah ihn stirnrunzelnd an.
„Solche Menschen töten nicht aus Spaß. Sie wollen ihre perfekte Komposition, eine unfassbar schöne, formvollendete Ästhetik verwirklichen. Wenn sie einmal etwas sehen, was so sehr diesem ästhetischen Ideal entspricht, dann können sie einfach nicht anders, als es zu vollenden. Koste es, was es wolle.“
Marc sah ihn stumm an. Die Flammen spiegelten sich in seinen Augen.
„Was hast du noch gleich im Wald gemacht?“
„Ich war wandern.“
„Ja, richtig“, Marc wandte seinen Blick wieder dem Feuer zu.
„Ich habe noch nie jemanden zu dieser Zeit im Wald getroffen. Zumindest keinen Wanderer.“
„Nachts ist es am schönsten im Wald. So ruhig. Man trifft fast nie jemanden. Außer den ein oder anderen Förster“, Peter lachte. Der junge Mann sah ihn an und stimmte in sein Lachen ein.

Sie saßen noch eine Weile vor dem Feuer. Nach einiger Zeit stand Marc auf. „Ich glaube, der Schneesturm hat sich gelegt.“
Er ging zur Tür, öffnete sie und blickte nach draußen. Peter gesellte sich zu ihm. Die Nacht war sternenklar. „Oh, endlich kann man den Vollmond sehen“, Peter lächelte, „er war der eigentliche Grund, warum ich heute unterwegs war. Sieht schön aus, findest du nicht?“
„Doch“, Marc blickte nach oben. Das Mondlicht spiegelte sich in seinen grünen Augen.
„Ich werde mal schnell etwas Feuerholz holen.“
„Warte, ich helfe dir.“
„Ach, das ist doch nicht nötig.“
Peter legte sanft seine Hand auf Marcs Schulter. „Doch es ist nötig. Schließlich hast du mich vor dem Schneesturm gerettet. Da ist es das Mindeste, dass ich dir helfe.“
„Gut, wie du meinst“, Marc grinste, dann gingen beide Männer nach draußen.

Der Mond stand hoch am Himmel. Sein Schein erleuchtete die kleine Lichtung, auf der die Hütte stand, und ließ den Schnee wie tausend Diamanten glitzern. Ein junger Mann beugte sich hinunter zum Feuerholz. Das dunkle Braun seiner langen Jacke ging perfekt in die Farbe des Holzes über und ließ das Geschehen sehr harmonisch wirken.
Seine braunen kurzen Haare schimmerten leicht im Mondlicht und seine grünen Augen funkelten.
Sie bildeten einen leuchtenden Kontrast zu dem sonst so farblosen Schauspiel. Wunderschön. Es sah wunderschön aus.

Fast. Etwas fehlte.

Eine rote, klebrige Flüssigkeit breitete sich im Schnee aus. Das helle Mondlicht spiegelte sich in der silbern glänzenden Klinge. Die dunkle Gestalt lächelte.