von Rebecca Luyken
Es ist Sonntagmorgen. Elf Uhr. Herr K. läuft durch den Wald. Das macht er jeden Sonntag. Eigentlich joggt er immer abends, weil er bis nachmittags keine Zeit hat. Da ist er immer in der Schule. Aber sonntags läuft er morgens. Im klaren Licht. Das mag Herr K. Die Pulsuhr an seinem Handgelenk zeigt 160. Herr K.‘s Herz schlägt gleichmäßig und kräftig. Er joggt, seit er in dieser Stadt wohnt. Herr K. hat eine kleine Wohnung, zwei Straßen von der Schule entfernt. Er unterrichtet Deutsch. Oberstufe. Herr K. liebt seinen Job. Besonders seit dem letzten Jahr. Da hat er den Deutschleistungskurs von Frau T. übernommen. Nicht sehr stark, der Kurs, eigentlich nichts, was ein Lehrer sich wünscht…
Aber da ist A. Sie sitzt in der vorletzten Reihe. Bei den Drückebergern. Herr K. kennt diesen Typ Schüler: Sie sitzen immer hinten, um nicht drangenommen zu werden. Sie machen nie ihre Hausaufgaben und nie sind sie im Unterricht geistig anwesend. Bei A. ist das nicht viel anders. Die Jungs sind verrückt nach ihr, und das weiß sie. Das Interpretieren und Analysieren der bedeutenden Prosa und Lyrik unserer Zeit kann sie nicht so sehr begeistern wie J. schräg links hinter ihr. J. ist ein schrecklicher Angeber, ein Schwätzer. Herr K. verachtet solche Typen. Aber er scheint A. zu gefallen. Dass sie keinen besseren Geschmack hat, wundert Herrn K. So ein tolles Mädchen. Die Pulsuhr zeigt 160. Sie Luft ist angenehm frisch. Ich brauche neue Laufschuhe, denkt Herr K. Die linke Sohle ist hinten schon fast durchgelaufen. A. mag vielleicht nicht so gute Aufsätze schreiben, aber sie kann vorlesen. Das ist Herrn K. gleich am ersten Tag aufgefallen, als er Eichendorffs Mondnacht an die Tafel projizierte und sie drannahm, weil sie schwätzte. Da hat er das erste Mal ihre Stimme gehört, wie leidenschaftlich sie sich in den Zeilen verlor und wie kokett und doch zurückhaltend sie die einzelnen Worte betonte. Erst war es nur ihre Stimme, aber dann konnte Herr K. nicht mehr umhin, auch ihre haselnussbraunen Locken zu bewundern, und ihre honigbraunen Augen, die so glänzen, wenn sie den Blick von den vorgelesenen Zeilen hebt und verstummt.
Von dem Tag an nimmt Herr K. sie jeden Tag zum Vorlesen dran. Er lässt sie in alle seine Lieblingsrollen schlüpfen. Helena von Troja, Gretchen, Effi, Julia, Emilia, Iphigenie. Am kommenden Schulfest möchte Herr K. Iphigenie auf Tauris auf die Bühne bringen. Er hat den Kurs mit dem Stoff bereits vertraut gemacht. Noch hat er aber nichts von seinem Projekt erzählt. Herr K. fürchtet. A. könne die Hauptrolle ablehnen. Wofür dann der ganze Zirkus? Ich könnte heute mal die andere Strecke laufen, bis zum Steinbruch. Das habe ich lange schon nicht mehr gemacht. Das letzte Mal habe ich dort sogar ein Reh gesehen, ein recht junges, mit glänzend braunem Fell. Herr K. nimmt die linke Abzweigung. Es geht ein nun Stück bergauf. Die Pulsuhr zeigt 170.
Vor zwei Jahren hat es einen Skandal am Erich-Kästner-Gymnasium gegeben. Es war im Juni, Montagmorgen, kurz vor dem Abitur. Herr K. erinnert sich genau an diesen Tag. Er betrat das Lehrerzimmer, die Laufschuhe in der Tasche. Am Abend wollte er gleich nach der Konferenz joggen gehen. Sofort bemerkte er die Aufregung. Die Kollegen waren am Tuscheln. Was ist denn los? Herr K. ist eigentlich kein neugieriger Typ. Aber es lag etwas in der Luft, eine Mischung aus Empörung und Begeisterung. Es ist der Dr. M.!, raunte es durch den Raum, er verlässt uns. Er verlässt uns? Aber wieso?
Herr Dr. M. war ein recht junggebliebener und lebenslustiger Mensch, er unterrichtete Englisch und Geschichte. Bei den Schülern war er sehr beliebt, er hatte etwas Spitzbübisches und Mitreißendes. Viele Kolleginnen schwärmten für ihn und das war kein Geheimnis. Auch die Schülerinnen mochten Herrn Dr. M. am liebsten und sie forderten seine charmante Art gerne zu einem harmlosen Flirt heraus. Herr K. hatte ihn heimlich immer darum beneidet. Er war viel jünger als Dr. M., und dennoch offensichtlich kein Frauentyp. Er war viel zu schüchtern, zu ernsthaft, zu unsicher, um eine andere Rolle anzunehmen als die des Lehrers. Hinter seinen Brillengläsern und Rollkragenpullovern hatte er sich immer gern versteckt, hinter seinen Büchern und seinen Lektüreschlüsseln. Herr Dr. M. hingegen krempelte die Ärmel hoch und begeisterte die Welt für seine Sache. Doch eines Tages, an dem besagten Montagmorgen im Juni, kam Dr. M. nicht mehr. Er sei von der Schule verwiesen worden. Affäre mit einer Schülerin aus der Oberstufe. Ein befreundeter Schüler habe es im Internet ausgeplaudert. Es wurde zu einem Skandal. Die ganze Stadt redete davon.
Herr K. stolpert über einen Stein. Gerade kann er sich noch fangen. Stirnrunzelnd hebt er den Stein auf. Ganz schön schwer für so einen kleinen Stein, denkt er und wiegt ihn in der Hand. Interessante Form. Fast rund und mit kleinen Kratern und Furchen übersät. Wie ein kleiner Mond. Herr K. schmunzelt. Er steckt den Stein in die Tasche. Durch die Bäume hindurch sieht er schon das Licht am Rand des Steinbruchs. Er joggt weiter.
Schrecklich, diese Bloßstellung. Ich habe nie wieder etwas von Herrn Dr. M. gehört. Was er wohl macht…? Herr K. erreicht den Steinbruch. Es ist kühl. Die Pulsuhr zeigt 150. Kein Reh in der Nähe. Auch kein anderes Tier. Noch nicht einmal ein Vogel zwitschert. Wenn A. die Rolle nicht will, soll ich das ganze Projekt dann abblasen? Wie erkläre ich das den Kollegen? Nein, das kann ich nicht machen. Es würden sicher Fragen gestellt. Herr K. holt den Stein aus der Hosentasche und spielt mit ihm herum.
Herr K. blickt hinunter in den Steinbruch. Ganz schön tief. Bestimmt 600 Meter. Hatte er doch mal gelesen. Schließlich kommt er nicht das erste Mal hierher. Eigentlich sollte er so was wissen.
Herr K. streckt die Faust, in der er den Stein hält, über den Abgrund. Die Hand ist ganz ruhig. Die Pulsuhr zeigt 120. Herr K. lässt den Stein los. Der Stein fällt, geräuschlos, schwerelos. So ein schwerer Stein im freien Fall, denkt Herr K., so als wäre er leichter als Papier. Kein Aufprall. Der Stein ist im Nebel verschwunden. Vielleicht fliegt er weiter, dort unten, unter dem Nebel. Schwerelos, gedankenlos. Vielleicht ist es da unten gedankenlos, mühelos…? Wieder muss Herr K. schmunzeln. Versonnen. Und meine Seele spannte weit ihre Flüge aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus. Die dünne Luft steigt mir zu Kopf, denkt Herr K. Vielleicht sollte er sich langsam auf den Rückweg machen. Er muss noch Klausuren korrigieren. Einen ganzen Stapel. Iphigenie auf Tauris. Eigentlich hatte er sich darauf gefreut. Herr K. nimmt Anlauf. Herr K. rennt los. Dann ist er schwerelos, gedankenlos. Die Pulsuhr zeigt fast 200. Um ihn herum ist es still.
Es ist Montagmorgen. Elf Uhr. Der Deutschkurs der 13 sitzt versammelt in Raum N311. Herr K. ist nicht da. Ein Bleistift klappert ungehört auf einer Tischplatte. Die Uhr im Klassenzimmer tickt, gleichmäßig und kräftig, wie ein gesundes Herz. Ein Handy klingelt. J. macht einen Witz, A. kichert. Sie hat einfach keinen besseren Geschmack.