Der Unmensch in mir? – Oder: Als ich aus Bequemlichkeit einfach im Bus sitzen geblieben bin

– von Anna Sebastian

20160331_124640„Wir bitten Sie, älteren oder behinderten Fahrgästen sowie Personen mit Kleinkindern die Sitzplätze zu überlassen“

Diese Worte findet man neuerdings auf den Anzeigetafeln in den Bussen des VWS. Ein Satz, der mich zum Nachdenken anregt – und mich erschreckt! Ist es nun endgültig soweit, dass vermeintliche Grundwerte auch in Siegen erbeten werden müssen?! Grundwerte, die jeder von uns im Kindesalter hätte lernen sollen. Es macht mich traurig und gleichzeitig hinterfrage ich mein eigenes Handeln. Wende ich tatsächlich genau das im Alltag an, was mir meine Eltern beigebracht haben? Die Antwort, zu der ich komme, lautet „meistens“.   Und auch das erschreckt mich. Reicht ein „meistens“ aus? Mir dieses „meistens“ anstatt dem erhofften „immer“ einzugestehen, fällt schwer. So schafft es der VWS mir den Spiegel vorzuhalten. Eine völlig neue Erfahrung. Und ehrlich, steigt ein Mitmensch älteren Datums in den Bus ein, ertappe ich mich häufig dabei, abzuwägen, ob die Person noch jung genug ist, damit ich sitzen bleiben kann. Vorausgesetzt ich erspähe keine freien Sitzplätze in meinem Blickfeld. Sollte dies der Fall sein, erspare ich mir das Abwägen direkt. Sonst müsste ich im übervollen Bus mit meinen 1, 60 m mal wieder in der Achsel eines anderen stehen. Zumindest, beruhige ich mich selbst, stehe ich bei behinderten Personen und schwangeren Frauen ohne vorherigen inneren Disput auf. Immerhin. Aber nein, ich möchte mich hier nicht selbst zum Unmenschen degradieren. Ich behaupte selbstbewusst, dass ich noch zum Typ Mensch gehöre, der sich gegen den vielzitierten Egoismus der Gesellschaft standhaft zur Wehr setzt. Dennoch könnte ich mein Verhalten in so manchen Fällen verbessern. Und damit bin ich offensichtlich, so zeigt uns die Anzeige des VWS, nicht alleine. Gerade den älteren Mitmenschen gegenüber verhalten wir uns häufig rücksichtslos oder zumindest ungeduldig. Wer hat nicht schon entnervt den Rentner bei dem Lauf über die Ampel umrundet – anstatt ihm vielleicht, zugegebenermaßen klischeegerecht, über die Straße zu helfen – oder dem Sonntagsfahrer Flüche hinterhergeschickt?! Oft habe ich älteren Menschen meine Hilfe angeboten, wollte im Bus tatsächlich aufstehen oder auf anderer Weise behilflich sein. Selten wird es dankend angenommen. Häufiger reagieren die Betroffenen verschämt und einige Male wurde ich gefragt, für wie alt ich sie eigentlich hielte. Es ist in unserer Gesellschaft offenbar nicht nur schwierig selbst Mitgefühl zu zeigen, sondern auch es entgegen zu nehmen. Wie oft sagt man selbst „ach nein das geht schon“, aus Angst nur eine Höflichkeitsfloskel in Anspruch zu nehmen. Man möchte nicht unangenehm zur Last fallen. Auch diese Erkenntnis erschreckt.

Was hat das Niederschreiben dieser Zeilen nun gebracht? (den Idealfall einer effektiven und sinngebenden Lektüre voraussetzend) Nun, in mir hat es den Entschluss gefestigt, weniger gestresst durch den Alltag zu gehen, hilfsbereiter und vor allem nachsichtiger mit dem Alter zu sein. Eines Tages werde ich aller Wahrscheinlichkeit nach selbst in einen Bus steigen und meinen Blick schweifen lassen. Diesmal in der Hoffnung, dass jemand für mich aufsteht.