Kapitel 4
von Andreas Hohmann
Das Licht war aus! Er kam gar nicht erst auf die Idee, an einen unglücklichen Zufall zu glauben. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, und sein Herzschlag trommelte erbarmungslos. Er konnte nichts sehen. Wohin genau er die Kisten geschoben hatte, um an seinen Vorrat zu gelangen, wusste er schon nicht mehr.
Das Knarren!
Mit angehaltenem Atem erinnerte sich daran, wie lange es angehalten hatte, und zwang sich zum Nachdenken. Zwei Dinge fielen ihm ein.
Erstens: Es hatte länger als nur einen flüchtigen Moment gedauert. Irgendetwas Schweres war auf die Treppenstufe getreten.
Zweitens, und das war schlimmer: Es war mehr als nur ein Laut gewesen. Das Knarren hatte kurz angeschwollen, dann abgenommen. Dann war es wieder angeschwollen, und dabei – da war er sich absolut sicher – eine Winzigkeit näher gekommen. Jemand hatte das Licht gelöscht und kam die Treppe runter.
Was das zu bedeuten hatte, war ihm sofort klar. Es gab einfach keine andere Erklärung.
Aber welcher Idiot macht denn so was? Schockiert musste er sich eingestehen, dass jemand offenbar genau das zu tun gedachte, was er für absolut unvorstellbar gehalten hatte: ihn angreifen! Den Chefkoch!
Wer sollte das tun? Wer greift den Chef im Ring an? Und wer konnte sich in dieser stockfinsteren Schwärze so mühelos bewegen, dass er auf das Licht der elektrischen Funzel an der Decke verzichten konnte? Niemand, sagte er sich, niemand. Verdammt, wir sind hier nicht in irgendeinem schlechten Horrorfilm … oder einem dieser dämlichen Computerspiele, mit Nachtelfen, die im Dunkeln sehen können. Dieser Kram eben, über den Azubis ständig reden, um sich vor der Arbeit zu drücken. Verdammt, das hier ist das echte Leben!
Seine Leute mochten ihre Talente haben – wenn auch nur die wenigsten davon wirklich brauchbar waren – aber das brachten sie nicht fertig. Dafür fehlten ihnen die Eier.
Es sei denn … Das Sehen ist gar nicht das Problem, schoss es ihm durch den Kopf. Nicht, wenn das jemand ist, den ich in den letzten Wochen so oft zum Zutaten-holen hier runter geschickt habe, dass er den Weg mittlerweile im Schlaf gehen könnte.
Pascal!
War ja klar, dass der sich nicht mit hartem, ehrlichem Feedback abfinden kann. Aber sich hier im Dunkeln an mich ranzumachen … dieser kleine Dreckfresser!
Es war klar, wie das hier weitergehen musste: Verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Maßnahmen, oder nicht?
Seine Hand wanderte zu einem seiner Küchenmesser am Gürtel. Menschenfleisch hatten die guten Stücke zwar noch nie geschnitten, aber es gab wohl für alles ein erstes Mal. Was sein muss, muss sein, dachte er. Selbstschutz geht vor.
Als sich seine Finger um den Griff einer besonders langen Klinge krümmen wollten, ziepte seine Armverletzung. Lautlos verzog er das Gesicht. Gerade wollte er darüber fluchen, wie viel an diesem Morgen schon daneben gegangen war, als ihm eine Idee kam. Zeit, ein wenig Feuer mit Feuer zu bekämpfen.
Seine Lippen verzogen sich zu einem boshaften Grinsen. Statt des Messers geriet der Korkenzieher in seine Finger.
Warum auch die guten Werkzeuge an jemandem wie Pascal verschw-?
Als er unmittelbar vor sich ein leises Atmen spürte, schnellte er vorwärts. Er stieß dem Angreifer eine Kiste gegen die Beine und wurde mit einem gequälten Aufheulen belohnt. Dann stach er zu. Der zweite Schrei war deutlich schriller. Befriedigt hörte Ernesto, wie sein Angreifer rückwärts taumelte. Jetzt nur noch –
Etwas traf ihn frontal ins Gesicht. Er grunzte und kniff die Augen zusammen, denn es war der Strahl einer Taschenlampe, mit der er vom oberen Rand der Kellertreppe aus angeleuchtet wurde.
„Chef?“
Er blinzelte. „Lea?“
Aber Lea war nicht die Person, die den Korkenzieher abbekommen hatte. Wer …?
„Wichser! Hurensohn! Penner!“
„Pascal?!“ Also hatte er Recht! Seine Überraschung verpuffte sofort und wurde zu siedend heißer Wut. „WAS ZUR HÖLLE MACHST DU IN MEINEM KELLER?“
„Fuck! Außer mich von dir abstechen zu lassen? Stromausfall! Das Licht in der Küche hat geflackert, da sind wir runter in den Keller, um nach dem Hauptschalter zu sehen.“ Er warf Lea einen giftigen Blick zu, während er seine Hand auf die neue Verletzung an seinem Arm drückte. „‚Versuch’s doch noch mal, der Chef wird’s schon verstehen.‘“, wiederholte er offenbar, was sie zu ihm gesagt hatte. „Das war ja ne tolle Idee!“
Ernesto sah sie an. Sie hatte sich über ihn hinweg gesetzt. Schon die zweite Küchenhilfe, die ihn heute bloßstellen wollte. Er ballte die Hände zu Fäusten, bis seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Jetzt reicht’s!