Rezension zu Lucy Frickes „Die Diplomatin“
Von Michael Fassel
Diplomatie mag in diesen Zeiten wieder mehr Wert beigemessen werden. So wird man Lucy Frickes neuen Roman Die Diplomatin womöglich mit anderen Augen lesen. Die Protagonistin, die Diplomatin Friederike Andermann, handelt nach eigenem Ermessen und muss doch immer feststellen, dass ihre Arbeit stets einem politischen Protokoll unterliegen sollte. Wie sollte ein liberal-demokratischer Mensch in dieser verantwortungsvollen Position in einem autokratischen Staat handeln? Diese zentrale Frage verhandelt Lucy Fricke in ihrem lesenswerten Diplomatenroman.
Der Roman besteht aus drei Teilen, die je mit einem Settingwechsel – Montevideo, Istanbul und Hamburg – einhergehen. Lucy Fricke, die 2007 mit dem Roman Durst ist schlimmer als Heimweh debütierte, gelingt es auf den ersten Seiten, ihre Leser*innen in die Welt der Diplomatie einzuführen, sie mit dem Alltag einer Botschafterin vertraut zu machen. Dies ist der Wahl der mal nahbaren, mal unnahbaren Ich-Erzählerin zu verdanken.
Dreh- und Angelpunkt ist der mittlere Part, in dem Fred ihre Arbeit in Istanbul aufnimmt. Eine beeindruckende Urlaubskulisse wird in krassen Kontrast zum autokratischen Staat gesetzt. Verlässliche Kollegen in der Botschaft einerseits, bestechliche Richter andererseits veranlassen Fred dazu, ihre Arbeit zu hinterfragen. Sie lotet Möglichkeiten und vor allem Grenzen der Diplomatie aus. Als ihre Vermittlungsstrategien nicht greifen, handelt sie aus politischer Sicht unkonventionell, aus humaner Sicht jedoch der Situation angemessen, um letztendlich das Gute im Menschen siegen zu lassen. In ihrer Arbeit geht es somit nicht nur um Erfolg, sondern vor allem auch um das Scheitern oder besser gesagt: Die Angst vor dem Scheitern, die in diesem Beruf dazu gehört. Diese Erfahrung musste Fred nämlich bereits im ersten Teil des Romans, in Montevideo, schmerzlich erfahren.
Lucy Fricke lässt nicht nur der Diplomatin Friederike Andermann bei ihrer Arbeit über die Schultern schauen; auch zeigt die Autorin die Ich-Erzählerin in ihrer Privatheit. „Niemand sah mich je umfallen. Das tat ich erst, nachdem die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war.“ (S. 169). Darüber hinaus gibt sie häppchenweise Informationen über ihr (vergangenes) Privatleben preis: Ledig, kinderlos, eine gescheiterte Beziehung, das aber nicht als Manko ausgelegt wird. Dass Beruf nicht viel Zeit für Privatleben zulässt, könnte eine versteckte Botschaft des Romans sein. Und da ist noch ihre Mutter in Hamburg, deren Miete Fred zuverlässig zahlt. Auf die Mutter-Tochter-Beziehung wird zwar im dritten ein Fokus gesetzt, doch wäre es wünschenswert gewesen, dieses spezielle Verhältnis intensiver zu beleuchten.
Trotz der Herausforderungen, denen Fred manchmal machtlos gegenübersteht, ist Lucy Fricke die Konzeption einer starken Frauenfigur gelungen. Denn sie versucht Probleme mit Pragmatismus anzugehen. Dies spiegelt sich auch in der nüchternen Sprache wider. Das Nachdenken über das Scheitern, sowohl in beruflicher als auch in privater Hinsicht, macht diese Figur nahbarer und interessant. Dass sie trotz vieler Hürden als Frau im Kampf um die Freilassung von Meran, angelehnt an den Fall der deutschen Journalisten Meşale Tolu Çorlu, die 2017 in der Türkei festgenommen wurde, in der patriarchal-autokratischen Türkei letztendlich doch Erfolgserlebnisse verbucht, lässt Die Diplomatin auch als erfrischend feministischen Text lesen.
Lucy Fricke: Die Diplomatin.
Claassen Verlag, Berlin 2022.
256 Seiten, 22,00 Euro.