Dead Man Walking – Teil 2

von Andreas Hohmann

 

Sein Name ist John Barrett, und er ist einzigartig. Weil er es als erster Mensch seiner Zeit geschafft hat, einen Polarwinter lang allein im arktischen Eis des Nordens zu überleben. Wie – das weiß niemand.

Dem Tod im Eis mit – wenn auch noch so knapper – Not entkommen zu sein, macht ihn drei Jahre später interessant für eine Forschungsexpedition unter der Leitung des Professors Dr. Dr. Emil Kanthorst. Ziel der Reise ist die legendäre Nordwestpassage – ein geheimnisumwitterter Seeweg genau in jener Region der Welt, in der John einst um sein Überleben kämpfen musste. Ob er den Weg kennt, weiß der Professor nicht. Denn John ist ein äußerst verschlossener Mensch. Aber er kennt die Gegend, viele ihrer Geheimnisse und die meisten ihrer lebensbedrohlichen Tücken.

Infolge seiner jahrelangen Reisen entwurzelt, knapp bei Kasse und ohne Perspektive, lässt sich John widerwillig auf die Expedition des Professors ein. Dass er überhaupt zusagt, liegt vor allem an Fernando Degaine und Luna McTye, zwei alten Bekannten aus Schul- und Studienzeiten. Sie sind die einzigen vertrauten Menschen, die ihm noch geblieben sind.

Nach mehreren Monaten beschwerlicher Seereise erreicht die Expedition den winterlichen Küstenort Port Vernon. Erst dort wird John bemerken, dass eine zweite Expedition mit der des Professors um die Entdeckung der Nordwestpassage konkurriert. Es wird ein Landgang mit Folgen …

 

*

 

Fernando ist vom Tresen zurückgekehrt. Dabei ist er offenbar schneller gewesen als unsere Mitstreiter, die noch damit beschäftigt sind, dem Wirt ihre Bestellung aufzutragen.

„Bleib unauffällig, wenn du hinsiehst“, warnt mich mein Gefährte. Er rückt seinen Stuhl zurecht, um sich mir gegenüber zu setzen. Sofort fällt mir auf, dass die Leichtigkeit und scheinbare Beiläufigkeit dieser Bewegung darüber hinweg täuschen sollen, dass Fernando angespannt darauf achtet, nicht das noch so geringste Geräusch zu verursachen. Wie ein Tier, das einen überlegenen Jäger im Nacken spürt, bewegt er sich völlig lautlos.

Es dauert einen Herzschlag, den Stuhl zu verrücken. Doch mir kommt es vor, als würde eine Ewigkeit vergehen, bevor Fernando endlich hinzufügt: „Da vorne am Tresen ist jemand, der mit dir sprechen will.“

Die Art seiner Bewegungen eben, und jetzt der bedeutungsvolle Unterton in seiner Stimme verraten genug.

Ich muss nur einmal aus den Augenwinkeln hinüber linsen, um zu erkennen, wer der ominöse Kerl ist, der zwar mit mir sprechen will, aber nicht mal bereit ist, zu mir herüber zu kommen. Ihn auszumachen, ist nicht schwer, obwohl es am Tresen voll ist, weil sich neben unseren Leuten noch ein gutes Dutzend anderer Reisender dort aufhalten.

Zwar hat der Mann, den Fernando meint, uns den Rücken zugewandt, doch erkenne ich an ihm sofort den Körperbau eines Seemanns: Er ist breitschulterig und hager, offensichtlich ein Kraftpaket, aber ohne einschüchternde Muskelpartien. Er trägt einen schweren Mantel, dessen Kapuze er sich tief ins Gesicht gezogen hat. Wenn man weiß, welche Art Kleidung Seefahrer in diesen Gefilden gewöhnlich tragen, dann ist man ohne weiteres in der Lage, den Rückschluss ziehen, dass dieser Mann einen hohen Rang an Bord eines modernen Hochseeschiffs belegt. Doch man muss zwei und zwei zusammenzählen, denn außer dem Schnitt des Mantels gibt es keine äußerlichen Erkennungszeichen wie Epauletten, Kapitänsbinden oder Kopfbedeckungen.

Ich würde viel darum geben, das Gesicht dieses Fremden erkennen zu können. Mein Blick fällt auf den Degen, der in einem aufwändig verzierten Heft an seinem Gürtel hängt. Dann bemerke ich die beiden Holster an seinem Gürtel, aus denen Schießeisen mit versilberten Knäufen ragen. Mein Puls beschleunigt sich.

Hier liegt die Crux bei ihm: Seine Kleidung zeugt zwar auf eine schroffe, geradezu bedrohliche Weise von Extravaganz, aber sie lässt nicht den geringsten Rückschluss auf die Identität ihres Trägers zu. Es ist sonderbar … einerseits scheint dieser Kerl auffallen zu wollen, andererseits verbirgt er alles, was ihn irgendwie identifizierbar gemacht hätte. Selbst seine Hände stecken in schwarzen Handschuhen, deren Säume in den Ärmeln des Mantels verschwinden. Hat man ihn einmal in der Menge entdeckt, fällt es schwer, die Augen von ihm abzuwenden. Seine bloße Präsenz zwingt uns geradezu, unsere Blicke unverwandt auf ihn zu richten. Sie ist wie ein Magnetberg, der jegliches Metall in seiner Umgebung unerbittlich in seinen Bann schlägt.

Und doch ist es eisig um ihn herum, denke ich schaudernd. Die Kälte, die von ihm ausgeht, ist wie eine Barriere, die alle unerwünschten Mitmenschen von ihm fern hält. Vor meinem inneren Auge taucht das Bild eines gewaltigen, scharfkantigen Eisbergs auf, der sich in einer eisigen Nacht auf See unheilverkündend am Bug eines Schiffs aus einer Nebelbank schält.

Man kann gar nicht anders, als beim Anblick dieser vermummten Gestalt da vorne am Tresen zu frösteln.

Und er erinnert mich an die anderen Kapuzenträger, die mir aufgefallen sind, als wir die Gaststätte betreten haben.

„Kennst du den?“, stellt Fernando mit gedämpfter Stimme die gleiche Frage, die ich ihm gerade stellen wollte.

„Nein“, antworte ich gedämpft. „Nicht, dass ich wüsste. Du?“

„Noch nie gesehen. Seine Stimme war seltsam … scharf und viel härter als gemeinhin üblich.“

„Ich kenne niemanden, der so … klingt.“

„Er dich anscheinend aber schon, denn er hat mich so bestimmt und zielsicher angesprochen, dass ich nicht an eine Verwechslung glaube. Und er wollte mit dir sprechen. Sofort. Er kannte sogar deinen Namen.“

Mein Argwohn ist längst geweckt. Doch Fernandos Andeutungen machen mich neugierig. Ich muss wissen, wie weit er denkt. „Na ja, ‚John‘ ist in diesen Gefilden nicht gerade ein seltener Name.“

„Aber er kannte deinen vollen Namen: John Maynard Barrett. Und er deutete beiläufig in deine Richtung, als ich nicht gehorchte.“

Ich hebe unmerklich die Augenbrauen, gerade genug, um Fernando vorsichtig mein Erstaunen zu signalisieren. „‚Gehorchte‘?“

„Das war ziemlich schräg“, erklärt er zögerlich und mit einem Schulterzucken, das sein Unbehagen nur allzu deutlich verrät. „Wenn man bedenkt, wie viele Leute ihn hätten sehen können . . . Stell dir das vor: Wir haben uns gerade zum Wirt vorgearbeitet, als mich auf einmal jemand am Arm packt und zu sich hin zieht . . . Das war merkwürdig.“

„Weil?“

„Weil es keine ruckartige Bewegung war. Wer spontan handelt, geht gröber vor. Das hier war im Voraus geplant.“

„Das war der Kerl da vorne?“

„Ja, aber das ist noch nicht alles: Ich versuche noch, meinen Arm wegzuziehen, und schnauze ihn an, er solle gefälligst seine Drecksfinger von mir nehmen. Da lässt er auf einmal einen nadelspitzen Dolch im Ärmel, genau unter seiner Hand, aufblitzen. Der weiß, wie man damit umgeht, glaub‘ mir – ich erkenne Typen wie ihn, wenn ich sie sehe. Dann nennt er deinen Namen und deutet, wie gesagt, in deine Richtung. Bevor er mich dann endlich gehen lässt, zischt er mir noch zu, was er von mir erwartet: dir zu sagen, dass er mit dir sprechen will.“

Ich spüre mein Herz schneller schlagen. Die Instinkte des Jägers, auf die ich mich in der Vergangenheit so oft verlassen musste, drängen sich in meinem Inneren unerbittlich vor.

Wer auch immer dieser Typ ist – er bedeutet nichts Gutes.

„Hat er noch mehr gesagt?“

„Du sollst ihn hinterm Haus treffen. Im Hinterhof.“

„Im Hinterhof?“ Meine Skepsis ist unüberhörbar, und ich habe allen Grund zu ihr: Ich kenne die hiesige Bauweise gut genug, um zu wissen, dass die Hinterhöfe kleine, dunkle, sorgsam durch Mauern und Zäune abgeschottete Parzellen sind, die nicht dazu einladen, sich bei Nacht oder im Halbdunkeln in ihnen aufzuhalten. Männer und Frauen in solchen düsteren Ecken verstummen und dann auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen, ist hier keine unübliche Praxis.

Das stinkt nach einer Falle.

Meine Gedanken müssen sich in meiner Mimik gespiegelt haben, denn Fernando fragt mich knapp: „Du denkst an einen Hinterhalt?“

„Ja.“

Er nickt. „Ich auch. Soll ich mitkommen?“

„Nein“, erwidere ich. „Ich weiß nicht, wer dieser Kerl ist …“ Kurz denke ich wieder an diese anderen vermummten Gestalten. „… oder ob er wirklich allein ist. Aber ich vermute, dass er zu der Art Mensch gehört, der man nicht ungestraft absagt. Er will mich allein sprechen. Bleib du hier und pass auf die anderen auf, falls sich noch mehr von seiner Sorte hier rumtreiben.“ Dann greife ich einen Gedanken auf, den ich kurz zuvor hatte: „Wenn jemand diese Geheimniskrämerei nötig hat, sollten wir wachsam sein.“

Man sieht Fernando deutlich an, wie wenig ihm die Vorstellung gefällt, mich allein gehen zu lassen. Dennoch nickt er. „Sei vorsichtig, Mann. Wir brauchen dich.“

Ich spare mir die Antwort. Es ist alles gesagt. Wachsam erhebe ich mich, zugleich suche ich den Raum mit den Augen ab. Die Lage unseres Tischs macht sich jetzt bezahlt, denn sie bietet uns mehr Sichtschutz, als der Kerl am Tresen umgekehrt für sich beanspruchen kann.

Ich gehe vorsichtig weiter, überfliege die Köpfe der Leute, und –

Oh verdammt, das war knapp!

 

… Fortsetzung folgt