Er ist schuld!

Oder sie! Oder es! Oder . . . ach, egal! Hauptsache, nicht ich!
– Advanced Freestyle-Seminargestaltung –

von Andreas Hohmann

„Jaa, guten Tag, ich begrüße Sie zu diesem Seminar. Selbstverständlich würde ich Sie jetzt fragen, welche Interessen Sie dazu bewogen haben, diese Veranstaltung zu belegen. Aber offen gestanden haben Ihre Antworten keinen Einfluss auf den weiteren Verlauf, sodass wir diesen Part auch überspringen können.
Ich dachte mir, zu Beginn eine kleine Einführung ins Thema: ‚Kollektiv geteilte Deutungsmuster in der Gesellschaft‘. Welcher Gesellschaft? Na, junger Mann, welche Gesellschaft sollte für uns schon relevant sein? Unsere! Welche sonst? Also, der thematische Einstieg. Sie sind dran, liebe Studierende. Der Arbeitsauftrag lautet: Nennen Sie ein kollektiv geteiltes Deutungsmuster in unserer Gesellschaft. Nein, dieses Hand-heben können Sie sich sparen. Einfach auf Zur-
Was sagen Sie da? Ja, Sie in der hintersten Reihe! Was Sie sagen – ja doch, bitte, wiederholen Sie! Was? Sie sagen: ‚ER IST SCHULD‘?!
Sie antworten auf meine seriöse Frage nach kollektiv geteilten Deutungsmustern in unserer Gesellschaft mit ‚Er ist schuld‘?
Na gut. Wenn Sie wollen. Dann . . . nehmen wir uns Ihre Aussage vor und arbeiten daran das Einmaleins des wissenschaftlichen Arbeitens ab. Sie kennen das ja. Nicht? Tja . . . dann: Nacharbeiten. *zuckt die Achseln*
Erstens: ‚Er ist schuld‘ ist eine pauschalisierende Aussage und damit als Beitrag für dieses Seminar völlig unqualifiziert. ACH, jetzt kommen Sie mir bloß nicht damit an, von wegen, kollektive Deutungsmuster seien eben pauschalisierend! Das weiß ich selbst, immerhin bin ich eine Koryphäe auf diesem Gebiet. Es geht um Ihren Beitrag als Student – um das, was Sie als Student gesagt haben. Und um nichts anderes.
Zweitens: Ihrer Aussage mangelt es entschieden an Gendersensibilität. Ich will Ihnen nichts, aber das ist ja wohl die Grundausstattung für Studierende im 1. Semester Bachelor. Was lernen Sie eigentlich in der Schule? Also: Es heißt – wenn überhaupt – ‚Er SCHRÄGSTRICH sie ist schuld‘.
Und drittens: Es – was? *murrt* Diese renitenten Studenten, die alles hinterfragen müssen. *hust* Also, Ihr Einwand! Aha, mhm-hmm. Sie monieren also den binären Geschlechtercode meiner Aussage. Gut, das ist schon besser. Was wäre Ihnen denn lieber? ‚Er Schrägstrich sie Schrägstrich ES ist schuld‘? Was?! Das soll Chauvinismus sein, weil die männliche Form in meiner Aussage vorne steht? Ohh, meinetwegen, dann eben: ‚Sie Schrägstrich er Schrägstrich es ist schuld‘.
Ach nein, geht auch nicht. Andernfalls müssen Sie sich den Vorwurf des Feminismus gefallen lassen, dass Sie dadurch, dass die feminine Form am Anfang steht, vermitteln, man wolle die Frau zum Sündenbock stempeln. *brummt* Typisch – ÄHHHHHH, ich meine: Das ist aus fachlicher, differenzsensibilisierter Sicht natürlich völlig nachvollziehbar! Doing gender, und so. Und doing difference. Also, meine Damen und Herren – liebe ES’s -, suchen wir eine zufriedenstellende Lösung. Ich biete noch an: ‚Es Schrägstrich sie beziehungsweise (ja: b-z-w) er ist schuld!‘
Ohh, das finden Sie in Ordnung? Interessant. Gestern hatte ich eine Debatte mit einem Kollegen aus der Philosophischen Fakultät, der ein entschiedener Gegner des Transhumanismus ist. Er war gegen diese Anordnung, weil er die Ansicht vertritt, dass dadurch der Entmenschlichung des Menschen und seiner Verdinglichung das Wort geredet wird. Hat wohl Angst, dass wir irgendwann alle als Cyborgs rumlaufen . . .
Ach, egal. Ich lege ein anderes, gendersensibles, analytisch brauchbareres Beispiel vor. Warten Sie kurz, ich baue die Technik auf. Soo, Laptop . . . Beamer-Kabel . . . Adapter . . . soo, gleich geht’s los. Und jetzt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .mhmm-hmm-hmm-mhmm-hmmm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dududududuuu . . . . . . . . . hmmm, na das ist ja merkwürdig . . . . . . . . . . . . . . wo zum Henker ist denn jetzt die Präsentation, die mein Mitarbeiter noch machen sollte? Hmm . . . . . . . hmm, nee, nicht da. Ärgerlich.
Na gut. Das Seminar ist für heute beendet. Ja, ich bedaure es auch, dass das alles ist, was ich Ihnen heute an thematischem Input liefern kann, aber ich bin nun einmal auf die Technik angewiesen wie jeder andere auch. Ja, ich kann Ihnen versichern, dass ich Ihren Unmut vollauf nachvollziehen kann. Für die Evaluation meiner Lehrveranstaltung in drei Monaten verweise ich aber darauf, dass dies nicht mein Fehler ist. Darauf, ob mein Mitarbeiter die Präsentation auf meinen Laptop lädt, habe ich keinen – ich wiederhole: keinen Einfluss. Das war mein Mitarbeiter. Er ist schuld!“