von Jan-Hendrik Schulz
Am Tag, als Deniz Schmick verhaftet wird, bittet ihn seine Mutter noch, besser in die Moschee zu gehen. Der 3. August 2013, ein Samstag, war ein muslimischer Feiertag. „Hätte ich mal besser auf sie gehört“, sagt Schmick.
An einem Samstagabend in Istanbul nehmen die türkischen Behörden den Maschinenbaustudenten fest, er sitzt vier Tage in Haft, er darf sein Studium noch beenden und muss das Land verlassen. Einfach so. Schmick macht gerade sein Diplom an der Uni Siegen.
Für zwei Semester studiert der Halbtürke in Bursa, südlich des Marmarameers. Seine Familie besitzt eine Wohnung in Istanbul, am Wochenende trifft sich Schmick dort mit Freunden, genießt die Freizeit. Auch am 3. August. Schmick und seine Freunde setzen sich in eine Bar in einer Seitenstraße und trinken Eistee. Auf der Straße spitzt sich die Lage zu, Wasserwerfer rumpeln durch die Stadt. Trotzdem glauben sie sich in Sicherheit.
Sonderbehandlung als Deutscher
Bis die Polizei an die Scheibe schlägt, systematisch, bei allen Bars und Kneipen in der Gegend. Schmick und seine Freunde müssen raus und ihre Ausweise vorzeigen. Willkürlich wählen die Einsatzkräfte aus, wer in Haft kommt und wer gehen darf. „Ich verstand sie nicht gleich, sofort zogen mich zwei Kerle links und rechts zum Transporter. Ich hatte viel zu viel Angst, um mich zu wehren“, sagt Schmick. Andere wurden mit Kabelbindern gefesselt, vermutlich weil er Deutscher ist, bekommt Deniz eine kleine Sonderbehandlung. „Jeder Beamte hat immer erst den Vorgesetzten gefragt, was sie mit dem machen sollen“, sagt er.
Nur ein Plumpsklo ohne Toilettenpapier auf dem ganzen Flur
Er kommt in U-Haft, muss Handy, Gürtel, Schnürsenkel abgeben, alles. Neun Personen sind sie in der Zelle, vielleicht 20 Quadratmeter, unter der Erde, fünf Bänke und ein paar Gymnastikmatten auf dem Boden. Zwei Rentner, ehrenamtliche Sanitäter auf dem Taksim, ein Autor aus Deutschland, Studenten. „Ein anderer kam mit einem Menschenhändler in die Zelle“, sagt Deniz.
Auf dem ganzen Flur gibt es ein Plumpsklo ohne Toilettenpapier, die Wachen treiben die Männer rein und raus. „Wir haben kaum gegessen und getrunken, um nicht zum Klo zu müssen“, sagt Schmick. Er hat einen Anruf frei, meldet sich bei seiner Schwester Siebel. „Da willkürliche Verhaftungen zum Alltag geworden sind, hatte ich Siebel ein paar Tage vorher noch gebeten, das Handy anzulassen.“ Ihrer Mutter sagen die Geschwister nichts.
Gefängnisarzt will Rezept sehen
Einer der Männer hat Prostataprobleme, rüttelt immer wieder schreiend an den Gitterstäben. Auch Schmick braucht Hilfe, er hat ein chronisches Darmleiden, braucht täglich Medikamente. Ob er ein Rezept dabeihabe, fragt der Gefängnisarzt. Nein. Wozu auch. Stress beschleunigt die Krankheit, nach der Haft bricht sie aus.
Montagnachmittag wird Schmick dem Haftrichter vorgeführt, als Ausländer sofort in Abschiebehaft gesteckt. Gegen ihn liegt nichts vor. „Istanbul ist komplett videoüberwacht, jeder Polizist hat eine Helmkamera“, sagt Schmick, dessen Gesicht nirgends auftaucht. Er wird nicht als Gefahr eingestuft, soll trotzdem das Land verlassen. Man stellt ihn vor die Wahl: Das Land mit dem, was er am Leib trägt, sofort verlassen, oder weiter in Haft bleiben. „Sofort raus wäre ein Schuldeingeständnis“, erklärt der Student, „außerdem hätte ich mein Unizeug zurücklassen müssen und ich wollte wenigstens die Prüfungen noch ablegen.“
In der Abschiebehaft drängen sich 140 Personen in drei Schlafräumen, zwei Duschen und ein Plumpsklo. Der Wärter schiebt Deniz rein und knallt die Tür zu. „Beim ersten Blick hatte ich Angst, mit dem versammelten Abschaum Istanbuls eingesperrt zu sein“, so Schmick. Es stellt sich heraus, dass er vor niemandem Angst haben muss. Das Gefängnis liegt an einer Einkaufsstraße, durch die Gitterstäbe beobachten Deniz und seine Mithäftlinge die Menschen beim Döneressen.
Die deutsche Botschaft lässt Schmick im Stich, stellt weder Dolmetscher noch Anwalt. Ehrenamtliche Juristen beraten die Verhafteten. Nur Angehörige ersten Grades dürfen ihn besuchen, eine Freundin der Mutter gibt sich als Tante aus. In Deutschland tun Familie und Freunde alles, um ihn rauszuholen. Nach zwei weiteren Tagen wird er freigelassen, kann sein Auslandssemester beenden, die Aufenthaltserlaubnis aber nicht verlängern. Ende September ist er wieder in Deutschland. Erst jetzt erzählt er seiner Mutter von der Verhaftung.
Im März wird Fall vor einem türkischen Gericht verhandelt
Im März wird sein Fall vor einem türkischen Gericht verhandelt, die Polizei hat Strafanzeige gestellt. Reist Schmick ein, kommt er womöglich nicht wieder raus. Wenn er nicht zur Verhandlung erscheint, wird ihm das nicht unbedingt zum Vorteil gereichen. „Ich bin im Jahr mehrmals in der Türkei, ich habe Familie und Freunde dort“, sagt Schmick. Seine Mutter ist gerade in der Türkei und versucht zu regeln, was zu regeln ist.
„Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn es zum Schlimmsten kommt und ich nie wieder einreisen darf“, sagt Schmick. „Bisher habe ich den Gedanken verdrängt. Ich hoffe einfach, dass es glattgeht.“
3 Fragen an Deniz Schmick
Wie bist Du mit den Protesten in Kontakt gekommen?
„Die Leute, die nicht selbst auf die Straße können, zeigen ihre Solidarität und Unterstützung mit den Protestierern um 21 Uhr. Sie stehen am Fenster und klopfen auf Teller und Töpfe, so demonstrieren sie Rückhalt.“
Wie steht die türkische Bevölkerung zu ihrer Regierung?
„Die türkischen Medien sind zensiert. Die Polizei beschießt unter anderem alte Frauen und Kinder mit Plastikgeschossen und Gas und behauptet nachher, sie hätten es mit Randalierern zu tun, ,Marodeuren’ heißt es offiziell. Viele glauben das. Die halbe Bevölkerung wird als gewaltbereit dargestellt. Wer so einen Umgang des Staates mit seinen Bürgern sieht und erfährt, kann nicht mehr für die Regierung sein. Ich wurde auf der Straße aufgesammelt, vier Tage wie ein Schwerverbrecher in Haft gehalten, und wenn ich erneut einreise, weiß ich nicht, ob ich wieder herauskomme.“
Warum hat die Polizei am 3. August wahllos Menschen festgenommen?
Es gab einen Protestaufruf, der wahrscheinlich inszeniert war, niemand hatte sich dazu bekannt. Am folgenden Montag sollte Gegnern des islamischen Ministerpräsidenten Erdogan der Prozess gemacht werden, wahrscheinlich war es eine Falle. Als wir in Taksim ankamen, im Grunde eine lange Einkaufsstraße mit mehreren Querstraßen, hatte die Polizei sich bereits so postiert, dass sie sofort alle Menschen einkesseln konnte. Wenn sie keine Menschen dort gewollt hätten, hätten sie abriegeln können. Aber wer dort verhaftet wurde, konnte bei dem Prozess schon mal nicht mehr protestieren.“