von Marius Albers
Vermutlich würden einige Menschen sagen, dass wir hier und heute in einer klassenlosen Gesellschaft leben. Nun, eine offensichtliche sowie klar und explizit deklarierte Klassifikation lässt sich aber auch heute noch finden. Auf der Strecke Siegen-Essen rollen die Züge der Abellio (bei der Bahn ist es freilich nicht anders), in denen wie in den guten alten Zeiten zwei Klassen angeboten werden. Das normale Volk darf zusammenstehen (was nicht nur bei den kommenden sommerlichen Temperaturen manchmal etwas unangenehm wird), während in der ersten Klasse chronisch leere Sitze sehnsüchtig darauf warten, endlich einmal besetzt zu werden.
Der furchtlose Anarchist würde nun freilich sofort und ohne zu zögern die freie Plätze einnehmen, wenn es an anderer Stelle eng wird, doch nicht jeder ist aus diesem Holz geschnitzt und außerdem möchte man die Konfrontation mit dem Zugbegleiter gern vermeiden, da sie mitunter auch das eigene Kapital gefährden könnte.
Nun ist das zunächst ein Befund, der an der Oberfläche liegt. Wie tief verankert dieses Klassendenken aber sitzt, zeigt eine kleine Beobachtung aus der jüngsten Vergangenheit: Irgendwo zwischen Siegen und Hagen – wo ist nicht wirklich wichtig – blieb der Zug stehen. Auch der Grund dafür ist nicht wirklich wichtig, während ein paar Begleitumstände doch wirklich wichtig sind: Es war ein warmer Nachmittag, später zeigte das Thermometer noch gute 27 Grad an, herrlicher Sonnenschein, und der Zug wie zu erwarten sehr voll. So voll, dass die Sitzplätze schon längst verteilt waren und alle übrigen Fahrgäste im Gang versuchten, einen Halt zu finden. Die Pause, die der Zug nun einlegte, dauerte beinahe eine halbe Stunde. In dieser Zeit verharrten die stehenden Fahrgäste geduldig und ohne Murren in ihrer Stehposition und warteten, bis es endlich weiterging. Auf der gesamten Strecke war bis dahin kein Zugbegleiter zu sehen gewesen. Nun sollte man meinen, in dieser Pause würden sich die armen Steher – zumal die Abwesenheit eines Kontrolleurs die Wahrscheinlichkeit einer Strafe deutlich sinken ließ – auf den gut sichtbaren freien Plätze jenseits der hübschen Glastür niederlassen. Doch weit gefehlt. Die Barriere ist keineswegs unüberwindbar, und doch sind alle brave Bürger, die sich an das halten, was Recht und Gesetz ist. Und wenn man keine Fahrkarte für die erste Klasse hat, bleibt man eben draußen, egal, ob es warm ist und der Zug nicht fährt. Wir haben unsere Klassenzugehörigkeit verinnerlicht, stellen sie kaum in Frage und ärgern uns lieber über die (Achtung unzulässiges Stereotyp) kleine, junge Studentin, die ihren Koffer auf dem Sitzt neben sich abstellt, weil sie ihn nicht auf die Gepäckablage wuchten kann, als dass wir uns darüber echauffieren, dass in der ersten Klasse auf jeder Fahrt zahllose Plätze frei bleiben müssen, nur für den Fall, dass eventuell jemand ein Ticket für die erste Klassen haben könnte.
Bis zur Endstation klassenlose Gesellschaft scheint es also noch ein langer Weg mit einigen Verspätungen zu sein …
P.S.: An alle Marxversteher (zu denen ich sicherlich nicht zähle): Ich bitte um Vergebung, hier als Unwissender ein wenig mit ein paar aufgeschnappten Begriffen gespielt zu haben. Wer mich aufklären möchte, darf sich gerne melden, aber bitte nehmt mir das oben Gesagte nicht krumm.