Mehr als Sachertorte und Schlagobers – Die Wiener Kaffeehaus-Kultur

von Michael Fassel

Gemütlich im Kaffeehaus eine heiße Schokolade trinken und beim Lesen einfach die Zeit vergessen. Ja, das ist in einer Hauptstadt möglich, denn die Wiener verstehen es, Lebensqualität zu atmen. Auch wenn man beim ersten Besuch von einer Sehenswürdigkeit zur anderen tapert und sich einfach an den prunkvollen (dieses Adjektiv nehme ich übrigens ausgesprochen selten aus meiner Wortschatzkiste heraus) Gebäuden optisch labt. Doch Österreichs Hauptstadt wurde und wird von namhaften Literatur- und Kulturschaffenden immer wieder durch den Kakao – pardon! – die heiße Schokolade gezogen. Der französische Schriftsteller Albert Camus bezeichnete in Der Fremde das Gesicht der Stadt als „oberflächliche, üppige Szenerie […] in der wenigst natürlichen Stadt der Welt […]“. Camus hat Vorarbeit geleistet, Kabarettisten wie beispielsweise Helmut Qualtinger oder Karl Farkas haben sich ebenso zu teils abwertenden, teils diffamierenden, aber gleichwohl provokant-unterhaltsamen Urteilen hinreißen lassen. Doch irgendwann hat auch das Verspotten seinen Reiz verloren. Wien-Bashing kann demnach heute nur geschehen, wenn man aus nostalgischen Gründen an dieser Traditionslinie festhalten will oder wenn man es metonymisch für die Regierung gebraucht.

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Ganz anders ist das Wien-Bild im Film. Ob der Klassiker Der dritte Mann oder Before Sunrise – die Filme machen in jeglicher Hinsicht auf Lust auf einen Besuch. Denn zu entdecken gibt es hinter den prachtvollen Fassaden nämlich sehr viel. Kunstliebhaber kommen auf definitiv auf ihre Kosten und sollten mindestens eine Woche einplanen: Zu entdecken gibt es beispielsweise zahlreiche Klimt-Gemälde im Schloss Belvedere oder die unnachahmlichen Hundertwasserhäuser. Auch die Arbeitsräume Sigmund Freuds sowie der speziell für ihn angefertigten Bürostuhl sind zu besichtigen. Die „üppige Szenerie“, wie Camus die Stadtkulisse pejorativ bezeichnet hat, hat eben doch Kunst und Kulturgeschichtliches unter der Oberfläche zu bieten.

Auch hinter den Fassaden wie dem Kaffeehaus Landtmann, in dem schon Freud seinen Verlängerten getrunken hat, passiert was. Dort versammeln sich illustre Runden aus Alteingesessenen, Studierenden, Touristen oder Geschäftsleuten zum Plausch, Essen oder Rendezvous. Es sind die kleinen alltäglichen Dinge, die einen dort in ihren Bann und mich darüber hinaus immer wieder in Staunen versetzen, wie sorgsam die Österreicher mit dem Tag, mit ihrer Zeit umgehen. „Carpe diem“ würde ein alter, „Quality Time“ ein junger Wiener sagen. Gerne schaue ich mir an, wie eine ältere Dame ihren Verlängerten meditatorisch umrührt oder mit welch kritischem Blick ein junger Geschäftsmann das Titelblatt der Wiener Tageszeitung beäugt. Oder höre einem philosophischen Streitgespräch zu.

Versüßt wird die Kaffeehausatmosphäre auf den weichen Polstern unter den Kronleuchtern nicht nur mit Vanille-Cremeschnitten, Mokka und – weil es in diesem Zusammenhang ja doch zumindest einmal gesagt werden muss – Sachertorte, sondern vor allem die Bedienungen. Jede Handbewegung sitzt. Eine frische weiße gestärkte Decke wird auf dem Tisch ausgebreitet und nach wenigen Sekunden ist das Gedeck hergerichtet. Fast bekommt man den Eindruck, als seien hier Magier am Werk. Nicht zuletzt sei ihr Wiener Dialekt gepaart mit verspieltem Charme genannt, der jedem Gast geradezu umschmeichelt. Jedes Wort sitzt so akkurat wie das weiße Hemd. Und man fühlt sich als Gast individuell behandelt und sogar gut unterhalten, wenn ein Kaffeehaus-Kellner bei der Kuchentheke sagt: „Lassen’s sich Zeit. Wir haben bis Mitternacht geöffnet.“ Was besonders schätzenswert ist: Sobald man den letzten Rest Pistazienschaum  der Mozarttorte vom Teller gekratzt und die Mokkatasse bereits bis auf ein Viertel ausgetrunken ist, werden die Gäste nicht im Fünf-Minuten-Takt gefragt, ob sie noch etwas bestellen wollen – wir kennen solche Szenen ja zu Genüge aus einschlägigen deutschen Café-Ketten, deren Maxime „Trinken. Essen. Schnell Zahlen.“ lautet. Diese erbärmliche Einstellung kann wahrhaftig nicht anstehen gegen die Wiener Gastrosophie, welche besagt, dass ein Kaffeehaus-Besuch eben mehr ist als der Verzehr von Getränk und Speisen. Vielleicht sind viele Cafés hierzulande einfach zu tröge und zu protestantisch, um das zu begreifen.