von Christian Bocksch
Joukahainen, Sohn aus reichem Hause mit einer bezaubernden Schwester, gehört nicht zu den sympathischsten Bewohnern des Landes Kalevala. Der schlaffe Jüngling verfügt jedoch über ein ungesund großes Ego. Er sieht sich als den besten Sänger des Landes, und behauptet am Anfang der Zeit Zeuge gewesen zu sein. Diese Kombination aus Inkompetenz und Hybris rächt sich schließlich, als er den Schlitten eines alten bärtigen Mannes absichtlich rammt. Dieser Mann, der weise Väinamöinen, erwartet eigentlich eine Entschuldigung des Jüngeren, doch dieser beschimpft ihn und fordert ein Wissens- und Gesangsduell. Beides verliert Joukahainen nicht nur, er verspricht Väinamöinen auch die Hand seiner Schwester und setzt damit eine Reihe von Tragödien in Gang.
Buchcover „Kalevala“, Bildrechte: © Galiani Verlag 2014.
Tilman Spreckelsen und Kat Menschik, verantwortlich für die detaillierten und stimmungsvollen Illustrationen, verarbeiteten die finnischen Verse, gesammelt von Elias Lönnrot, in Prosa. Dabei gelingt es Spreckelsen, dem Gewinner des Theodor-Storm Preises 2014, die Worte zu finden, um zum einen die Schönheit der Natur, zum anderen auch die Schrecken zu beschreiben, beides Themen des Mythos. Neben den Geschichten um Kalevala, bildet Lönnrots Leben einen eigenen Erzählstrang, der die jüngere finnische Geschichte veranschaulicht. Spreckelsen schreibt von seinen Eindrücken während der Reise durch Finnland und das russische Karelien, und welchen Einfluss diese Erfahrungen für sein Verständnis der Kalevala haben. Bei diesem Unterfangen zeichnet ihn die Fähigkeit aus, den Leser mental auf diese Reise mitzunehmen. So finden wir uns schnell in den Weiten der karelischen Wälder wieder.
„Es ging stundenlang durch dichte Wälder, in denen große und kleine Tiere ihre Rückzugsgebiete haben. Bären gibt es hier zuhauf, und jeder Einheimische teilt gern seine Strategie mit, wie man plötzliche Begegnungen mit Bären überlebt.“
Denn es geht um das Übernatürliche in der Natur, das auch heute noch fasziniert in einer Welt, die durch GPS und Digitalisierung so sicher scheint.
Im Mittelpunkt stehen keine Könige, Kriege und Götter, im Zentrum steht die Natur. Das Wissen um sie wird in den Geschichten zu einer Frage des Überlebens. Entsteht eine Verletzung durch Metall, wird die Wunde nicht einfach durch Zauberei geschlossen. Vielmehr wird das Eisen durch seine Geschichte beschworen.
„Ich kann dir helfen die Wunde zu schließen, sagte der Alte. Aber vorher müssen wir das Eisen beschwören, aus dem das Beil geschmiedet worden ist.“
In der Kalevala geht es um die einfachen Menschen und ihre Welt, ihre Helden. Väinamöinen, der bereits weise geboren wurde und die Erschaffung der Welt miterlebte, Ilmarinen der beste Schmidt Kalevalas und Erbauers des Sampo, einer Zaubermühle mit der Gold, Salz und Getreide gemahlen wird. Zuletzt Lemminkäinen der ganz dem Klischee des charmanten Gauners entspricht. Dieses Trio steht der Herrin von Pohjola gegenüber, einer mächtigen Frau im Norden. Interessanterweise unterscheiden sich diese Helden stark von denen in germanischen Mythen, denn hinter Lemminkäinen und Väinamöinen stehen keine großen Väter, sondern tatkräftige Mütter. Die des Ersteren reist sogar an den Fluss in der Totenwelt, um ihren Sohn wieder zum Leben zu erwecken. Väter nehmen in den Geschichten eher eine untergeordnete Rolle ein.
Gerade in der Gegenwart, die sich durch immer explizitere Gewaltdarstellungen auszeichnet, überraschen die durch Gesang geführten Duelle. Wobei diese Sänger nicht unterschätzt werden sollten, oder man endet als Holzscheit in einem Kaminfeuer. Die Samen, in der Kalevala als Lappen bezeichnet, treten als Zauberkundige auf und sind sowohl Gegner als auch Verbündete des Heldentrios.
Aber auch die größten Helden haben irgendwann ausgedient, und so wird auch Väinamöinen durch einen anderen abgelöst. Begleitet nur von seinem treuen Freund, dem Zwerg Pellervoinen, und dem Adler.
„Es ist gut, dass ich nicht allein bin, dachte er. Dann steuerte er sein Schiff in den Sonnenuntergang.“
Und ganz heimlich hofft man dann doch, dass er bald zurückkommen würde. Denn das Sampo allein macht ja auch nicht glücklich.