„Zur Vernichtung verpflichtet – dieser Irrsinn!“

Der Konter gegen die Lebensmittelverschwendung

von Camilla Musik

Eine vertrocknete Brotscheibe hier, zwei schrumpelige Kartoffeln da und die sonst so knackige Zucchini hat nach einer Woche Überlebenskampf im Kühlschrank schon bessere Tage durchgestanden – lieber weg damit! Situationen, in denen wir uns bewusst dazu entscheiden, übrig gebliebene Lebensmittel wegzuschmeißen, da sie nicht mehr appetitlich aussehen, kennt jeder.

Auch Studentin Lisa Schwarz (25), die sich eine WG und den Kühlschrank mit ihren zwei Mitbewohnern teilt, sieht sich oft damit konfrontiert. Die penible Volkswirtschaftslehre-Studentin, mit perfekt liegendem Haar und rosa lackierten, künstlichen Nägeln nimmt das Essen genau unter die Lupe, bevor sie wagt, die Produkte zu verspeisen. Sie habe die Befürchtung, sich sonst den Magen zu verderben. „Sobald die Lebensmittel nicht mehr genießbar aussehen oder sogar das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen ist, kommt das Zeug bei mir sofort in die Tonne. Dann geh‘ ich lieber nochmal zum Supermarkt und kaufe etwas Frisches ein“, erklärt sie.
Genau diese Denkweise teilen viele in der heutigen Gesellschaft, meint die Mittdreißigerin Carina Haupt-Ludat, Marktleiterin des größten Edeka-Supermarktes in Siegen. „Wenn ein Joghurt vier Wochen lang gültig ist, dann ist er ebenso gut vier Wochen und einen Tag länger auch noch haltbar und essbar.“ Die rundliche Frau – nicht gerade klassisch auftretend, ziert weder ein Hosenanzug noch eine weiße Bluse. Auf den ersten Blick deutet nichts auf ihre hohe Position in der Filiale hin.
Bei einem verschwenderischen und nicht umweltbewussten Lebensstil wie der Studentin Lisa, kann Frau Haupt-Ludat nur verächtlich schnaufen. Sie macht dahingehend klar, dass „zu schnell suggeriert wird, dieses oder jenes Produkt sei nach Ablauf des MHD schlecht. Kompletter Mist, diese Einstellung.“

Sind Beispiele wie das von Lisa nur Einzelfälle, oder doch ein Abbild der Mehrheit unserer Gesellschaft? Ein Blick auf die Fakten: Einer Studie (Stand 2015) der Umweltorganisation World Wide Fund For Nature (WWF) zur Folge, werfen die Deutschen rund 313 Kilogramm ihrer Lebensmittel weg – nicht in der Woche, einem Monat oder Jahr, sondern pro Sekunde. Hochgerechnet sind das rund 18 Millionen Tonnen, die im Jahr verabschiedet werden. Bei diesen Zahlen alarmiert das schlechte Gewissen – besonders wenn Frau Haupt-Ludat klarstellt, dass innerhalb von vier Tagen schätzungsweise 500 kg Gemüse ihres Einzelhandels im Müll landen müssten. „Kein Supermarkt wirft nur aus Spaß die Sachen in den Container, weil das Entsorgen so schön ist. Dass wir daran gebunden sind und nur ganz wenig Spielraum haben, daran denkt keiner“, entgegnet sie wütend.
Klar, jeder weiß von der Überproduktion und Massenabfertigung, um Profit zu machen, doch was will man gegen diese Art von Prasserei unternehmen? Kleine Schritte mit großer Wirkung wagen und …

etwas bewegen wollen

Unsere Mission ist es, die Gesellschaft zu einem nachhaltigen Lebensstil aufzufordern. Wir sollten intensiver über unseren Konsum reflektieren und nicht alles Mögliche im Überfluss einkaufen“, erklärt Malte Niessing (25), der die Betriebsverantwortlichkeit des Foodsharing Siegen übernommen hat. Die Kampagne ist in vielen Städten Deutschlands vertreten und wolle der Lebensmittelverschwendung entgegenwirken, so Malte, der durch seine eckige, schwarze Nerd-Brille blickt. Seit März 2016 besteht die ehrenamtliche Organisation auch in Siegen und umfasst knapp 40 Engagierte – Studenten, Männer und Frauen, die schon mitten im Berufsleben stehen, der nullachtfünfzehn Otto Normalverbraucher eben. Die Foodsaver, wie sie sich nennen, kooperieren mit verschiedenen Supermärkten in Siegen und Umgebung, holen fast täglich die gespendeten Lebensmittel ab und verteilen sie an Nachbarn und Freunde.
Für den Eigenbedarf ist das ein oder andere Brötchen auch noch drin“, scherzt ein Foodsaver am Infoabend des umweltbewussten Bündnisses.
Wenn jemand an meiner Haustür klingeln, sich als Foodsaver ausgeben und mir Brot schenken würde, wüsste ich nicht, ob ich es annehmen könnte. Das ganze Konzept ist schon ein wenig suspekt. Ich glaube, für mich wäre Foodsharing nichts“, erklärt Lisa.
Im Gegensatz zu Lisa steht Malte voll und ganz hinter dem Projekt. Der großgewachsene Bursche sieht mit seinen Nike Air Max aus wie ein klassischer Berliner Hippster – fehlt nur noch der Undercut, der den Stil des Bohemien vervollständigen würde – mehr Schein, als Sein. Er passt nicht in das Bild eines alternativen, nachhaltigen, umweltbewussten „Öko“ – das ein mancher vielleicht mit dem Foodsharing assoziieren würde. Doch muss ein „Öko“ auch diesem Bild gerecht werden? Frau Haupt-Ludat weiß es besser, denn ihr als Marktleiterin liegt ebenso viel an der Nachhaltigkeit wie Malte. Sie achtet z.B. auf eine strikte Mülltrennung und „pro Tonne erhalten wir sogar eine Gutschrift, dass wir alles sorgfältig sortieren, Plastik und so. Eine Prämie auf den Müll sozusagen.“

Funktionieren kann Foodsharing nur, wenn jeder mit vollem Elan dabei ist, denn die Gruppe lebt vom „Engagement des Einzelnen und wenn der Einsatz fehlt, dann ist auch Sand im Getriebe, denn dann läuft einfach nichts wie es soll. Wir arbeiten ehrenamtlich und sind deshalb auf Spenden oder Hilfe von Freunden und Bekannten angewiesen“, erzählt Malte – zufrieden darüber, dass sich die Gruppe in so kurzer Zeit etablieren konnte. Den Handkarren für die Abholungen habe ein Freund ihnen geschenkt. „Damit kann man einiges an Ware schleppen“, so Malte. Meistens zu zweit marschieren sie zu den kooperierenden Läden.
Seit acht Monaten arbeiten sie mit dem Café Bienenstich in der Siegener Innenstadt zusammen und die Engagierten fahren die Süß- und Backware mit ihrem Handkarren. „Um die drei bis vier Körbe geben wir täglich an Foodsharing weiter“, so die fleißige Carola Müller (46), Verkäuferin im Café Bienenstich. Auch sie packt mit ihren Arbeiterhänden zu, wenn es wieder kurz vor Feierabend heißt: Die Foodsaver stehen gleich bereit. Mit einem traditionellen Siegerländer „Gon Dach!“ fallen Malte und sein Begleiter gleich mit der Tür ins Haus. „Was gibt’s heute leckeres für uns?“, fragen beide neugierig. Sie sammeln alles in der Bäckerei ein, was noch zu kriegen ist – Croissants, Semmeln, Brot oder der ein oder andere Bienenstich, der nicht mehr verkauft wurde. Auch wenn keine Kooperation zwischen dem Café und den Aktivisten bestehen würde, kämen die übrig gebliebenen Lebensmittel vom Tag Hilfsbedürftigen zugute oder würden einem Bauernhof gespendet werden – Brot und Brötchen als Futter für die Tiere. „Wir wissen, dass auf die Jungs von Foodsharing immer Verlass ist, deshalb arbeiten wir gerne mit denen zusammen. Die sagen, sie kommen und dann stehen sie pünktlich hier vor Ort“, so Carola Müller.

Auch Frau Haupt-Ludat scheint vom Konzept der Aktivisten begeistert zu sein. „Auf jeden Fall würde ich die Truppe unterstützen, wenn da nicht schon die Zusammenarbeit mit der Tafel wäre.“ Doch die Welt damit retten, könne Foodsharing mit ihrem Enthusiasmus auch nicht, denn „die haben nicht den Anspruch, Hilfsbedürftige zu unterstützen. Ich denke, die Gruppe ist eher was für Menschen, die ein großes Verständnis für die Lebensmittelrettung haben und lieber verschenken, tauschen oder teilen wollen, als wegzuwerfen“, erklärt sie.
Für so was hätte ich gar keine Zeit! Mein Studium nimmt eh schon mein halbes Leben in Anspruch“, rechtfertigt Lisa ihre Entscheidung, sich in Zukunft nicht an Foodsharing beteiligen zu wollen.
Doch das Café Bienenstich bereut die Zusammenarbeit keineswegs, denn „wir sind froh, dass die uns angesprochen haben. Es ist schön zu wissen, etwas Gutes tun zu können“, erklärt Frau Müller sichtlich erfreut.
Ich sortiere schon meinen Müll oder bringe meine Pfandflaschen zum Supermarkt zurück. Kann ich damit jetzt die Welt retten?“, äußert sich Lisa kritisch beim Interview. Es scheint eine spezielle Lebenshaltung zu sein, sich dem Konter gegen die Lebensmittelverschwendung anschließen zu wollen oder eben nicht.

Nacht und Nebel-Aktion

Während Foodsharing als legale Organisation agiert, treibt eine andere im Verborgenen ihr Unwesen – Menschen, die sich nachts zusammenfinden, um in Mülltonnen der Supermärkte nach Essbarem zu suchen, das sogenannte containern. Auch Malte hat sich in der Vergangenheit dafür begeistert – weniger dagegen Frau Haupt-Ludat, die rein gar nichts mit dem Trend anfangen könne. „Die Sache mit dem Containern“ – Augenrollen – „geht gar nicht! Manche machen es zu ihrer Lebensaufgabe, schlagen sich durch die Welt, kriechen in den Tonnen herum und wollen allen beweisen, wie viele Lebensmittel vernichtet werden.“

Im Härtefall könne die Tat als Hausfriedensbruch gewertet und bestraft werden. „Wir haben es in unserer Filiale bereits erlebt, stolz wie Oskar waren sie. Bei Nacht und Nebel ziehen die die Säcke raus, aber wem wollen die was beweisen?“, hinterfragt die Marktführerin und stemmt verärgert die Hände in ihre wohl proportionierten Hüften.
Isabel Klein (26) und Gianna Friedrich (23), Studentinnen der Universität Siegen, ziehen regelmäßig nachts los, um in den Containern ihr Glück zu finden – und das mit Erfolg! Hauptsächlich versuchen sie es beim Frischemarkt Dornseifer in der Siegener Innenstadt. Der eignet sich besonders gut für das Containern, da „er überdacht und auch nachts beleuchtet ist. Bei schlechtem Wetter sind wir da klar im Vorteil“, erzählt die burschikose Isabel mit tiefer Stimme. Lisa kann rein gar nichts damit anfangen und bewertet mit einem verächtlichen „Ih!“ das Containern, während sie ihre Nase rümpft. „Das muss doch stinken wie Hölle!“, sagt sie schockiert.
Der strenge Geruch in den Mülltonnen scheint Isabel und Gianna jedoch nicht zu stören – sie wissen, dass sich die Ausbeute lohnt. „Man kann sich nicht vorstellen wie viel wir in der Tonne gefunden haben. Unsere ganze Tiefkühltruhe ist jetzt gut gefüllt“, erzählt die kleingewachsene Isabel begeistert. Sie deutet mit einer Handbewegung auf das große Gefriergerät in der Küche. Und tatsächlich – ihr Fund kann sich sehen lassen. Tütenweise Pommes, Iglo-Produkte, wie Fischstäbchen oder Schlemmer-Auflauf haben durch das Containern ein neues Zuhause gefunden. Bei kalten Temperaturen wie jetzt im Winter, könne man bei tiefgefrorenem Essen ohne Bedenken zulangen, erklärt Gianna. Doch Experten warnen vor Lebensmittel- oder Salmonellenvergiftungen, die z.B. durch bereits angetauten, verdorbenen Fisch verursacht werden können. Die ergatterten Essensreste vom Containern nur mit Vorsicht genießen – scheint hier die Devise zu sein.
Gianna hat ihr rostbraunes Haar zu einem wilden Knoten zusammen gesteckt – es fehlen nur noch die Essstäbchen, die ihre Frisur abrunden und zu ihrem Stil passen würden. „Wenn es weggeschmissen wird, sehe ich kein Problem, wieso ich mir nicht was davon mitnehmen sollte. Besonders bei Gemüse und Obst habe ich keine Bedenken“, rechtfertigt Gianna ihr Handeln. Frau Haupt-Ludat kann dagegen bei Aktionen wie dieser nur die Arme verschränken und mit einem erneuten herablassenden „Geht gar nicht!“ bewerten.

Die Alternativen

Kurz vor dem Urlaub ist der Kühlschrank bis oben hin vollgepackt mit noch haltbaren Lebensmitteln – viel zu schade, um alles in die Tonne zu werfen, meint Malte – doch wohin damit? Am Effertsufer in Siegen wurde von der Organisation eine überdachte Anlaufstelle eingerichtet, bei der übrig gebliebene Lebensmittel aus dem eigenen Haushalt gespendet werden können. Diese werden dann täglich von den Foodsavern eingesammelt und verteilt. Ebenso steht ein soziales Netzwerk bereit, um online sogenannte Essenskörbe anzubieten, die mit Nudeln, Obst, Gemüse und verschiedenem gefüllt werden können. Also: „Lebensmittel auf die Plattform stellen, abholen lassen, Gutes tun“, fordert Malte die Foodsharing-Interessierten auf, die zum Infoabend erschienen sind.
Ich bin ehrlich – ich wäre dafür zu faul, um meine Essensreste online zu stellen. Vielleicht bin ich einfach nicht der nachhaltige Typ Mensch und beschäftige mich damit zu wenig“, erklärt Lisa, als sie beim Interview auf die Online-Essenskörbe angesprochen wird. Mit diesem Konzept konnte die Gruppe jedoch innerhalb von zehn Monaten bereits über eine Tonne Lebensmittel retten, berichtet Malte stolz und hofft auf weiteren Erfolg.
Frau Haupt-Ludat konnte in ihrer zehnjährigen Partnerschaft mit der Siegener Tafel viele Lebensmittel vor dem Müll bewahren. Montags bis donnerstags wird die Ware in der Filiale abgeholt und „manchmal sind die Transporter so vollgepackt, dass keine Briefmarke mehr reinpasst“, berichtet sie. Ihren Aussagen zur Folge gäbe es jedoch auch eine Dunkelziffer, die die Unterstützung der Tafel ausnutzen würde, obwohl sie die Förderung nicht nötig habe. „Es wird dort erst mal nicht hinterfragt, wieso man Hilfe in Anspruch nimmt. Einige von denen meinen aber, für lau durch die Welt gehen zu können, dann wird die Tafel schamlos missbraucht.“ Nichtsdestotrotz wolle Frau Haupt-Ludat die Organisation weiterhin unterstützen.

Der Druck von oben

Nach Schönheitskriterien – knackig, nicht zu reif, mit einer glatten Oberfläche und einer strahlenden Farbe, werden Bananen, Orangen, Auberginen uvm. täglich aussortiert, entfernt und oftmals in Containern verschlossen, um sie vor Langfingern wie Isabel und Gianna zu schützen. „Foodsharing wäre für uns auch ein Thema, weil wir aus unendlich vielen Gründen, die Lebensmittel aussortieren müssen. Wir sind zur Vernichtung verpflichtet – dieser Irrsinn! Vor allem tut das noch mehr weh, wenn man weiß, dass die Ware noch genießbar ist“, versucht Frau Haupt-Ludat ihr Dilemma zu erklären. Bußgelder in Höhe von 50.000 Euro würde sie erwarten, wenn abgelaufene Lebensmittel im Regal zum Verkauf angeboten werden würden – was ihr jedoch noch nie passiert sei.
Doch wer ist eigentlich schuld an der Misere der Wegschmeiß-Moral der Supermärkte?
Ganz klar, die Politik. Würde die uns nicht dazu verpflichten, fast zwei Monate vor Ablauf des MHD, die Schokolade einer bekannten Firma aus dem Sortiment zu nehmen, nur weil die ihre Frische-Garantie gibt und die Anspruchshaltung des Kunden so hoch ist, sähe das Ganze schon anders aus“, erläutert Frau Haupt-Ludat. Ihrer Meinung nach bewertet sie Organisationen wie die Tafel oder Foodsharing als Tropfen auf dem heißen Stein – soll heißen, „für akut gut, langfristig gesehen löst das die Problematik aber nicht.“ Der beste Weg sei, die Vorgaben der Gesetzgebung zu ändern, um geringere Massen an Lebensmitteln zu verschwenden, so die Marktleiterin. Es scheint, als würden sich derzeit viele alternative Möglichkeiten herausbilden, um im eigenen Interesse der Wegwerf-Gesellschaft entgegenzuwirken. Der Konter gegen die Lebensmittelverschwendung hat bereits begonnen …