von Wiebke Kühlbauch
Viele Autoren haben sich mit dieser Thematik auseinandergesetzt. Beim „Vorleser“ sind wir empört aufgesprungen, bei der „Welle“ waren wir entsetzt und „Die Bücherdiebin“ hat uns zum Weinen gebracht.
Nun wagt sich der irische Autor John Boyne mit seiner Fabel „Der Junge im gestreiften Pyjama“ an dieses heikle Thema heran. Und auch er stellte sich vor dem Schreiben die Frage, wie möchte ich mich der Thematik nähern? „Durch die Augen eines Kindes, und zwar eines sehr naiven Kindes, das die schrecklichen Geschehnisse um es herum nicht versteht.“
Von Berlin nach Auschwitz
Der neunjährige Bruno lebt mit seinen Eltern und seiner 12 jährigen Schwester Gretel glücklich in Berlin. Als er jedoch eines Tages von der Schule kommt, muss er mit ansehen, wie das Dienstmädchen all seine Sachen in große Holzkisten räumt „auch die ganz hinten [im Schrank] versteckten, die ihm gehörten und keinen etwas angingen.“ Die Familie zieht um und Schuld ist der „Furor“, der anscheinend Großes mit Brunos Vater vorhat. Dann steht Bruno vor dem neuen Haus in „Aus-Wisch“ und ihm wird klar, dass er hier keine Freunde zum spielen haben wird, denn weit und breit gibt es nur dieses eine trostlose Haus. Durch sein Fenster eröffnet sich Bruno aber der Blick auf ein paar Baracken und einen endlos langen Zaun. Auf der anderen Seite sind „kleine Jungen und große Jungen. Väter und Großväter. Vielleicht auch ein paar Onkel. […] Sie waren jedermann.“
Aus Langeweile geht Bruno heimlich auf Entdeckungstour und trifft auf den Jungen Schmuel, der im „gestreiften Pyjama“ auf der anderen Seite des Zauns sitzt. Die Jungen freunden sich an und treffen sich Tag für Tag an dieser Stelle. Als Schmuels Vater verschwindet, beschließt Bruno, seinem neuen Freund zu helfen und schlüpft durch den Zaun.
Naiv oder dumm?
Völlig unvoreingenommen, wie es der Klappentext vorgibt, muss man sich diesem Buch nähern. Man sollte seine historischen Vorkenntnisse zwar nicht ad acta legen, sie bei der Lektüre jedoch nicht in den Vordergrund stellen. Davon lebt die Geschichte nämlich nicht. Es sind die Atmosphäre, diese unbestimmte Gewissheit, dass das nicht gut gehen kann und die Naivität des Jungen, die die Geschichte ausmachen.
Boyne konstruiert eine Familie, wie ich sie mir zu Zeiten des NS-Regimes gut vorstellen kann. Der Vater ist ein autoritärer SS-Offizier, die Mutter macht gegen ihren Willen gute Miene zum bösen Spiel, Gretel ist ein neunmalkluges Mädchen, welches die Geschehnisse im neuen zu Hause erahnen kann und die Großmutter ist entsetzt über die Kariere ihres Sohnes.
Bruno jedoch scheint nichts zu verstehen. Er soll naiv wirken, was auch in vieler Hinsicht gelingt, jedoch sind die Wortverwechslungen „Furor“ oder „Aus-Wisch“ nicht wirklich glaubhaft. Ein deutscher Junge in dem Alter hat mit Sicherheit bereits in der Schule das Wort Führer gelernt und auch Auschwitz ist für einen Neunjährigen kein Wort der Unmöglichkeit. In der deutschen Übersetzung von Brigitte Jakobeit sind die Wortschöpfungen aber noch nachvollziehbarer als im Original: „Fury“ und „Out-With“.
Durch die Augen eines Kindes
Und doch geht das Konzept auf. Löst man sich erst mal von der Idee, Bruno sei ein Junge dieser Zeit, kann er jedes Kind sein, dass zum ersten Mal mit dem Nationalsozialismus in Berührung kommt. Und wenn wir versuchen zu begreifen, was damals vor sich ging, werden wir schließlich auch zu Kindern, denn trotz zahlreicher Erklärungen und Dokumentationen, bleibt es unbegreiflich und trotzig fragen wir immer wieder: Warum? Das macht diesen Roman so wertvoll: Er regt zum Nachfragen an, wir springen zwischendurch empört auf, wir sind entsetzt und am Ende kann man eigentlich nur weinen.
Boyne, John: Der Junge im gestreiften Pyjama, aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit, Fischer Taschenbuch Verlag 2007, ISBN: 978-3-596-80683-6, 7,95 €