Am Elbufer

von Sarah Buschmeier

Jeden Tag beobachtete er von einem Fenster aus die grau-grüne Ente. Zwischen Elbe und dem Mehrfamilienhaus, in dem er sich eine Wohnung gemietet hatte, befanden sich lediglich einige Linden und eine Straße. Es war Samstagnachmittag. Wie jeden Tag um diese Zeit war es sehr ruhig. Im Fernsehen lief die Sportschau. Es ging um Seeler, zum zweiten Mal war er Fußballer des Jahres geworden. Wieder starrte er aus dem Fenster. Lena, seine Ehefrau, war vor sieben Jahren gestorben. Eine Weile hatte er noch mit seiner Tochter in dem liebevoll von Lena und ihm hergerichteten Altbau gelebt. Das junge Mädchen war früh ausgezogen und hatte angefangen zu studieren. Nach einem heftigen Streit kam sie einfach nicht wieder. Sie wollte den elterlichen Raumausstatterbetrieb nicht übernehmen. Vielleicht hatte es ihr auch die fehlende väterliche Aufmerksamkeit leichter gemacht, ihr Zuhause zu verlassen. Nach dem Tod von Lena war er nicht nur einsamer, auch konnte er sein Mitgefühl nicht mehr ausdrücken und beschäftigte sich kaum noch mit seiner Umwelt. Den Betrieb hatte er aufgegeben, ohne Lena fehlte ihm die Inspiration. Seine Tochter hatte er nicht aufhalten können. Das Haus hatte er verkauft und war in diese anonyme Wohnung gezogen.

Die Ente war immer noch da. Er verlor sich in seinen Gedanken. Sah Lena mit angewinkelten Beinen in ihrem Lieblingssessel sitzen. Fühlte ihre Wimpern an seiner Wange, wenn sie neben ihm lag und hörte ihren schiefen Gesang unter der morgendlichen Dusche.

Der Gongschlag ertönte. In der Tagesschau berichtete man immer noch vom Vietnamkrieg. Er sammelte seine Gedanken und sah sich selbst. Er war der Gegensatz von dem, was er früher war. Er war ernster geworden, sein kindliches Lächeln war ihm abhanden gekommen. Viele schlaflose Nächte hatten Schatten unter seine Augen gezeichnet. Er dachte viel über die Vergangenheit nach, aber nie über die Zukunft. Dabei war er doch allein der Zukunft wegen hierher gezogen. Nicht einmal das, was er einst geliebt hatte, das Einrichten von Wohnungen, hatte er hier verwirklichen können.

Immer tiefer sank er in seinen Sessel, bis er nur noch die Fensterbank von unten sehen konnte.

Ob die Ente wohl noch da war?

Akkurat gescheitelt und mit wohlwollendem Tonfall berichtete Tagesschau-Sprecher Köpcke weiter. Seine Frau Gertie kannte er vom Sehen. In besseren Tagen, als er noch ausgegangen war, war sie Lena und ihm von einem befreundeten Ehepaar vorgestellt worden. Herr Köpcke war leider verhindert, es wäre sicherlich interessant gewesen, mit ihm bei einem Glas Wein zu diskutieren. Es war eine illustre Party gewesen, viele Hamburger Persönlichkeiten waren anwesend, die er bereits vom Sehen kannte, bei denen er mit Lena das Interieur der Wohnräume gestaltet hat. Jetzt sah er höchstens Leute aus dem Fenster heraus. Er schaltete den Fernseher aus. Vor dem Einschlafen hörte er, wie jemand hastig durch das Treppenhaus lief. Es klang, als würden immer zwei Stufen auf einmal genommen. Ob sie es war? Wahrscheinlich traf sie sich wieder mit dem blonden Jungen.

Am nächsten Morgen riss ihn sein Reisewecker aus dem Tiefschlaf. Er hatte seiner Frau gehört. Doch auf Reise ging der Wecker seit langem nicht mehr. Der Wecker klingelte ihn zuverlässig aus seinen verpassten Träumen wach. Hätte, wäre, wenn … Wie oft er dieses Spiel schon im Kopf durchgegangen war. Lena war tot, die Reisen, die sie in ihren Köpfen zusammen ersponnen hatten, waren allein nichts mehr wert. Nichts als leere Worte. Träume, die nie wahr würden, egal wie sehr er es sich wünschte. Seit Jahren stand er jeden Morgen um halb acht auf. Ohne besonderen Grund. Eine cremefarben-blaue und eine grau-weiße Ente zogen an seinem Fenster vorbei. Die grau-grüne Ente war nicht da. Dabei war sie an Tagen wie heute immer da gewesen. Vermutlich war sie gemeinsam mit dem guten Wetter weitergezogen. Vielleicht nach Südfrankreich, dort war es um diese Jahreszeit noch warm. Montpellier, dort hatte er immer mit Lena hingewollt.

Normalerweise geht er jeden Samstag zu Lenas Grab. Er verlässt das Reihenhaus jede Woche nur ein einziges Mal, um auf den Friedhof zu gehen. Doch heute ging er nicht. Er tat den ganzen Tag nichts, außer ab und an aus dem Fenster zu blicken. Das Klingelschild trug seine unleserlichste Handschrift; er wollte nicht auffallen.

Er schaltete das Radio an. Gerne wäre er aus seinem Sessel aufgestanden, die zwei Stockwerke nach oben gelaufen und hätte an der Tür der Wohngemeinschaft geklingelt. Bisher hatte er die Tage seit dem Einzug verstreichen lassen, ohne den nötigen Mut aufzubringen.

Er sah hinunter auf die Straße. Die Ente war wieder da. Eingeparkt zwischen den Linden, die das Elbufer säumten. Es klingelte an der Tür. Die junge Frau sah ihn an und sagte: „Papa, du hast mir gefehlt.“