Der Spatz in der Hand

von Max Fendel

Als Markus S. vor zwei Jahren in die Berghütte seiner Firma eingezogen war, hatte er jeden Spiegel entfernt und jede auch nur minimal spiegelnde Oberfläche abgeklebt. Er rieb die silberne Teekanne mit feuchter Erde ein oder ließ auf den Herd gespritztes Fett eintrocknen, um auch jede mögliche Reflexion zu verhindern. Sein Smartphone und den Fernseher, welcher in der Hütte angeschlossen war, hatte er kurzerhand seinem Fahrer mitgegeben und ihm gesagt, er könne damit machen, was er wolle. Das Handy hatte keinen persönlichen Wert für ihn. Er hatte es noch nie wirklich benutzt, da sein eigentliches Telefon für die Ermittlungen beschlagnahmt worden war. Um jeden Kontakt mit der Außenwelt vermeiden zu können, vereinbarte S. mit dem Fahrer, dass seine Lebensmittelbox jeden Freitag um genau zwölf Uhr dreißig geliefert werden solle. Da die Hütte nur über einen alten Holzofen verfügte, würde er jeden Tag von zwölf bis dreizehn Uhr hinter der Hütte das für ihn bereitgestellte Holz in für die Ofenöffnung passende Stücke schlagen. Weiterlesen

Schnipsel

von Kristin Scheller

Gerda drückt die verzierte Holztüre auf. Die einzige im ganzen Haus, die nicht schlicht beige gestrichen ist, Pressspan zusammengehalten von bröckelnder Farbe, sondern massive Eiche mit sorgsam gepflegtem Lack. Sie quietscht unerträglich, denn Gerda kann sich nicht mehr tief genug bücken, um das untere Scharnier zu ölen. Doch für die alte Dame ist es das Geräusch von Heimat und Trost und vielleicht hat sie nicht immer nur vergessen, der Haushaltshilfe Bescheid zu sagen. Weiterlesen

Jack

von Ankay

Als Jack den Raum betrat, schienen alle Gespräche mit einem Mal zu verstummen. Die Jukebox startete „Supermassive Black Hole“ von Muse, als würde sie die Anwesenheit des neuen Gastes spüren und untermalte durch die ersten Klängen des Rocksongs die beiden selbstbewussten Schritte, mit denen er den halben Raum durchmaß. Weiterlesen

Sahnewolke & Kandiswürfel

von Jan Rottmann

Das Kristallgitter des Kandis löst sich unter einem leisen Knistern und ich frage mich warum man keinen anständigen Tee mehr bekommen kann, denn das Zitrusaroma vom Bergamottenöl lässt mir jedes mal einen Schauer über den Rücken jagen. Felix kommt ins Wohnzimmer, und dreht sich, als wolle er mir sein neues Sommerkleid präsentieren, um die eigene Achse. „Sahne habe ich nicht da aber Milch tuts doch auch, oder?“ Da ein „Nein“ die Tatsache nicht ändern würde, nehme ich den Karton schweigend entgegen. Weiterlesen

Freund aus Silber

von Michael Fassel

Ein geschmeidiges Gesicht, geformt von einem Bildhauer vor einigen hundert Jahren, verfeinert im klaren Licht der warmen Abendsonne. Eine liebenswerte Statue, inmitten einer Flut aus Silber. Sie wohnt in einem großen Schloss, wo sie die Steine sprechen und das Kellergewölbe singen hören kann. Gesänge aus einer fernen Vergangenheit, dumpf, aber freundlich. Silbernes Wasser fließt aus dem Hahn und benetzt seine Haut, seine Kleidung, alles. Weiterlesen

Godot kommt nicht

von Florian Hilf

„Sehen wir uns später noch? So gegen drei?“
„Um drei? – Okay.“

Die Kieselsteine knirschen unter meinen Füßen, als ich durch den Park zum Wasser gehe. Also zum See. Einem See mit akkurat abgegrenzter Uferlinie. Kinder laufen zum Kiosk – ein Eis holen, eine gemischte Tüte kaufen. Daneben die Männer mit den Bierflaschen in der Hand, den Blick zum Stand gegenüber. Der mit den Pommes. Ob ich jetzt auch…? Nein, später vielleicht. Eine große Portion mit dir zusammen. Ja genau. Weiterlesen

Immer noch Heidelberg

von Johannes Herbst

Er schielte auf das Ziffernblatt seines Weckers, doch erahnte nur verschwommene Umrisse zweier Zeiger! Stille. Wie zuvor, Stille. Obwohl er sich mehrfach die Augen rieb und den Wecker aus verschiedenen Blickwinkeln begutachtete, konnte er ihn nicht klar sehen. Es musste so kurz vor sechs sein. Zufrieden und mit geschlossenen Augen klemmte er sich ein Stück Bettdecke zwischen die Beine und drückte seinen Kopf in das Kissen. Weiterlesen

Reise zur Grenzlinie

von Ramon Pelz

Die Flamme flackert hier in der unangenehm kühlen Zimmerluft und wirkt hypnotisierend auf mich. Die Kälte ist mir egal, ich möchte etwas erledigen. Ich, der da an einem alten Holztisch mit tiefen Furchen und dunkler Maserung sitzt. Nur eine Feder und Tinte sollen mir zu dem Zwecke dienlich sein, das leere, noch unschuldige Blatt Papier als zweidimensionales Objekt zu benutzen, um meine Gedanken, meine Gefühle, meine Erinnerungen einzufangen. Draußen ist es noch dunkel und noch kälter als hier, an meinem armselig leeren, krank wirkenden Tisch. Kein Regengeräusch, kein Donnern, wie es eigentlich treffend zur drückenden Stimmung würde beitragen können, denke ich mir, während ich wie gebannt auf die tänzelnde Flamme der Kerze auf dem Tisch starre, mit nahezu irrem Blick, die Augen angestrengt und in tausend Gedanken gleichzeitig wühlend. Weiterlesen