Flaschenpost

von Michael Fassel

Und wieder gehe ich am Strand entlang. Ich schirme meine Augen ab und blicke auf die untergehende Sonne am Horizont. Der Wind pfeift so laut, dass ich das Schreien der Möwen nicht mehr hören kann. Immer suche ich mir stets solche Tage aus, an denen wenige Leute am Nordseestrand unterwegs sind. Ich gehöre nämlich zu denjenigen, die gerne Muscheln sammeln, obwohl ich weiß, dass sie weder meine Fensterbänke noch meine Schränke dekorieren, nein, sie verschwinden ja doch im Müll.
Wenn ich alleine am Strand bin, grabe ich gerne mal im Sand herum und schaue, was sich da so  findet. Aber meistens liegen dort nur verrostete Cola-Dosen, Fischgräten oder Reste toter Quallen herum.
Zu meinen erwähnenswerten Fundstücken zählen ein Fünf-Mark-Stück, ein Golfschläger, ein alter Taschenrechner und sogar eine Flaschenpost. Letztere fand ich vor einem Jahr. Das Wetter war ähnlich und ich stolperte mit meinen Gummistiefeln beinahe über die schmutzige Flasche. Ich hob sie auf und entfernte die nassen Algen. Ich spähte in die Flasche hinein, die nicht verschlossen war. Da lag doch tatsächlich ein zusammengerolltes Blatt Papier. Gibt’s so etwas normalerweise nicht nur in Abenteuerromanen? Ich schüttelte das Blatt heraus, rollte es auf und ich bewunderte eine verschnörkelte Handschrift. Ich las den Text:

14. April 1968, habe heute vorsichtshalber wegen eines Unwetters meine Schifffahrt abgebrochen. Brauche dringend Hilfe, da ich hier alleine nicht mehr wegkomme. Auf der Rückseite ist meine  Botschaft für Präsident Nixon. Die Nachricht ist eklatant wichtig für die Zukunft der Weltpolitik.
W.S.

Neugierig sah ich auf die Rückseite des Blattes, konnte aber nichts erkennen. Mit zitternden Händen hielt ich es gegen die untergehende Sonne. Mir wurde unbehaglich, als ich die Botschaft ein weiteres Mal las. Mit der Botschaft stimmte etwas nicht. Ein unerwartet starker Windstoß riss mir das Blatt beinahe aus meinen Fingern. Ich schloss den Reißverschluss meiner Jacke bis zum Kinn.  Auf einmal legte sich eine schwere Hand auf meine Schulter. Erschrocken drehte ich mich um und sah einen schmunzelnden sonnengebräunten alten Mann mit vielen Falten. Durch seine dunkelblaue Mütze ordnete ich ihn als Einheimischen ein. Ich brachte kein Wort heraus, beobachtete nur sein Grinsen und anschließend hörte ich sein raues Lachen, das ihm Tränen in die Augen steigen ließ.
„Nee, nee! Endlich mal jemand, der meine Post findet… Du hättest dein Gesicht sehen sollen! Das war absolut komisch!“ Dann verschwand er wieder lachend und humpelnd in seiner Hütte am Strand.
Ich las mir den Brief ein drittes Mal durch. Er hatte Schifffahrt mit drei f geschrieben, beherrschte also die neue deutsche Rechtschreibung. Aber ein wenig Geschichtsunterricht hätte ihm nicht geschadet, Nixon wurde erst 1969 Präsident…
Inzwischen ziert die Flaschenpost meinen Bücherschrank. Auch das Fünf-Mark-Stück, den Golfschläger und den Taschenrechner bewahre ich auf. Bei jedem Spaziergang, den ich heute am Strand mache, denke ich nicht mehr an Sachen, die der alte Mann im Sand versteckt haben könnte, sondern warte auf den Moment, ihm noch einmal zu begegnen, ihm beim Vergraben weiterer Dinge zu beobachten. Aber bislang habe ich ihn kein weiteres Mal getroffen.