Spaghetti Carbonara

von Anonym

Wie immer braucht sie die zusätzliche Kraft ihrer Schulter, um die Glastür zu öffnen. Sie tritt ein, Wärme schlägt ihr ins Gesicht, wohlig schließt sie ihre Augen und genießt den Temperaturunterschied. Ihre kirschroten Wangen, die sie sich in der Januarkälte geholt hat, gieren nach der Hitze und speichern diese ab. Ihr Blick schweift durch den Raum. Als sie ihr Ziel entdeckt, steuert sie auf den Tisch in der hinteren Ecke zu. Sie zögert einen unmerklichen Moment, ob sie sich nicht an den Tisch nebenan setzen soll. Doch wie immer nimmt sie am linken Tisch Platz.

Von hier aus hat sie eine gute Sicht auf die Straße, Menschen hetzen in der Abenddämmerung nach Hause, ihre Köpfe sind gesenkt. Vielleicht um sich vor der keifenden Kälte zu schützen, vielleicht um sich nicht von anderen Menschen und deren Schicksalen beirren zu lassen, vielleicht beides. Sie weiß es nicht.
Das Tischtuch blendet sie mit seinem Weiß und serviert damit einen Kontrast zu der grauen, schneelosen Winterwelt, die draußen herrscht. Die rote Gerbera ist wie immer frisch und steht verloren in ihrer schmalen Vase, das Teelicht nebenan ist kurz davor auszubrennen. Es ist ihr Tisch, zumindest einmal in der Woche gehört er ihr. Die Wand ist mit einer blau-grün gestreiften Tapete gemustert, sie betrachtet die Wand, verliert sich in der akkuraten Regelmäßigkeit des Streifenmusters.
„Guten Abend.“ Die Stimme des Kellners holt ihre Gedanken zurück ins Restaurant, ein großer junger Mann, wahrscheinlich Student. Seine braunen Haare sind eine Handbreite lang und sehen aus, als sei er heute Morgen in einen Wirbelsturm geraten.

„Wer weiß, wie lange er vor dem Spiegel gestanden und jedes Haar einzeln zurecht gezupft hat, um sie so hinzubekommen“.

Sie beschmunzelt seine Frisur. Mit einem höflichen Lächeln reicht er ihr die Speisekarte, seine Bewegungen zeigen keine Eile, im Lokal ist wenig los. Sie bedankt sich und der Kellner geht, um ihr Zeit für ihre Entscheidung zu lassen. Sie sieht ihm hinterher, sein Gang ist gemächlich, von hinten sieht sie, dass seine schwarze Hose tiefer sitzt als vorgesehen, sein Hemd hat sich im Laufe des Tages den Weg aus der Hose gebahnt und hängt jetzt keck über dem schwarzen Gürtel. Ihn stört es nicht.
Fest entschlossen schlägt sie die Karte auf. Ihre Augen fliegen über die Gerichte. Penne Al Tonno, Penne Pomodoro, Spaghetti Aglio e Olio, Spaghetti Napoli, Spaghetti Carbonara.
Eigentlich braucht sie die Karte nicht, sie nimmt immer die Nummer 27, Spaghetti Carbonara.
Ihre Augen ruhen auf den Spaghetti Carbonara, die geschwungene Schrift blickt ihr entgegen.
Gelangweilt, denn die Nummer 27 weiß, wer auf sie niederstarrt und womit sie rechnen kann.
Sie nimmt immer die Spaghetti Carbonara, weiß, was sie erwartet, läuft nicht Gefahr auf ein unliebsames Geschmackserlebnis, auf verschwendetes Geld und auf Zeit, die nicht wieder zurück zu gewinnen ist. Mit der 27 ist sie auf der sicheren Seite. Doch nicht heute, sie fokussiert sich auf die 23, Penne Al Tonno. „Heute bestelle ich die Penne Al Tonno.“
Thunfischsalat und Thunfischpizza isst sie immerhin auch gerne, also könnte ihr Thunfisch in Nudeln ebenfalls gefallen. Es fällt ihr schwer, sich vorzustellen, dass Fisch in dieser Kombination ihren Geschmack treffen würde. Aber der Thunfisch ist die einzige Ausschweifung, die sie sich ausmalen kann, schließlich gefällt er ihr auch in Salat und auf Pizza. Sie ist unbeirrbar, starrt auf die Nummer 23 der Speisekarte, denkt darüber nach, endlich diesen verrückten Aerobic-Kurs auszuprobieren, bei dem gleichzeitig gehüpft, getanzt und trainiert wird und von dem alle schwärmen, denkt darüber nach, endlich die Reise nach Thailand zu buchen, denkt an den Gutschein für den Zeichenkurs, der seit ihrem 30. Geburtstag in der obersten Schublade ihrer Schlafzimmerkommode liegt. So vieles wartet darauf, endlich von ihr verwirklicht zu werden. Heute wird sie damit beginnen, gleich nach dem Essen wird sie ins Fitnessstudio gehen und sich anmelden. Heute wird sie die Nummer 23 bestellen. Sie ist fest entschlossen.

Sie blickt auf, blickt auf die blau-grün gestreifte Wand, verliert sich in der Regelmäßigkeit des Streifenmusters. Der Kellner kommt auf ihren Tisch zu, sein Schritt gelassen, fragt mit einem Lächeln, ob sie sich entschieden hat. Sie zögert.
„Spaghetti Carbonara, bitte.“