Spurensuche

von Michael Fassel

Kniehohes Unkraut vor der Haustür, die Fassade bröckelt, zerbrochene Schieferplatten liegen auf dem Gehsteig. Stürme haben Haus und Garten erobert, kein Mensch außer mir wagt sich hier noch hinein. Aus dem Briefkasten ragt nasses Papier, von Regen oder Schnee verfärbt, völlig aufgelöst. Ich will es mir genauer anschauen, es rausziehen, doch es klebt nur an meinen Fingern. Die Schrift ist so verschwommen, dass ich das Datum der Werbeblättchen nicht mehr erkennen kann.

Ins Haus selbst traue ich mich nicht, noch nicht. Den Schlüssel für die Tür lasse ich in meiner Tasche. Noch wage ich mich nicht hinein.

Als ich hinters Haus gehe, schaue ich mich nach den Nachbarn um, blicke zu den Fenstern, ob sich da eine Gardine bewegt. Es ist still, es scheint niemand mehr in diesem Viertel zu leben, es stehen auch keine Autos vor den Garagen. Doch, ein blauer Ford Fiesta steht beim Nachbarn in der kniehohen Wiese. Die Windschutzscheibe hat einen netzartigen Riss, die Scheinwerfer sind eingeschlagen, das Blech hat Beulen.

Nun stehe ich auf der Wiese, die früher mal so schön gepflegt aussah, alle zwei Wochen gemäht wurde. Ich sehe noch den Stumpf des Kirschbaums, der an heißen Tagen Schatten gespendet hat. Ich habe den Geschmack von Kirschen wieder im Mund…

 

Auf die Kletterkünste meines Cousins war ich neidisch. Da kletterte er doch einfach auf den Kirschbaum, während ich auf dem frisch gemähten Rasen stand. „Komm schon!”, rief er mir zu, als ich mich auf die Gartenmauer setzte und ihm zuschaute. Mir war das zu langweilig, redete ich mir ein. Ich dachte, nur Grundschulkinder machen solche Sachen. Als Sechstklässler ist man zu alt dafür. Dabei traute ich mich einfach nicht. Ich bin fünf Jahre älter als Marc, hatte mich ihm gegenüber immer aufgespielt, ich wollte ihm die Welt erklären, so wie mein Opa, wenn er denn mal gesprochen hatte.

Ein Ast knackte, ich schaute hoch in die Baumkrone und musste lächeln. Gleich würde er fallen, sich irgendetwas brechen, ich hoffte es. Und tatsächlich passierte es, erst gab der Ast nach, dann fiel Marc auf den Rücken, mitten in den kurzen Rasen. Für einen Moment wirkte er benommen. Mir stockte der Atem, mein Lächeln verflog schnell, als ich den Aufprall auf der Wiese hörte, ich dachte, er hätte sich alle Knochen gebrochen. Er blinzelte in den Himmel und wollte sich aufrichten. Es sah ungewöhnlich aus. Aufstehen konnte er nicht und er antwortete nicht auf meine Frage, ob er sich weh getan hätte. Was sollte ich unternehmen? Einen Arzt rufen? Aber wo? Seine Eltern waren nicht da, unsere Großeltern auch nicht und die Haustür war uns beim Verlassen des Hauses zugefallen. Zu den Nachbarn gehen, das war eine Möglichkeit. Ich sprang über die niedrige Gartenmauer und lief zu den Nachbarn, die in einem alten Fachwerkhaus wohnten. Wo war die Klingel? Ich suchte den ganzen Türrahmen ab, doch da war keine, außer der Holztür. Wieso klopfte ich nicht? Wieso rief ich nicht einfach um Hilfe? Doch die alte Nachbarin war mir ohnehin unheimlich, ich traf sie manchmal im Kiosk und da spielte sie immer mit ihrem Gebiss. Außerdem roch sie nach gebratenen Zwiebeln und trug immer eine ausgebleichte Kittelschürze, hellblau. Der Kiosk! Warum war ich nicht gleich darauf gekommen? Da arbeitete der nette Mann, den ich Onkel Heinz nannte, der mit meinem Opa befreundet war und der mir immer Butterkekse schenkte. Sein Sohn Tom arbeitete ebenfalls dort und gab mir Karamell-Schokoriegel, die mir lieber waren.

„Na, Lust auf Karamell?”, fragte Tom, als ich gehetzt den Kiosk betrat. Die Luft war stickiger als sonst an diesem Tag, es roch nach Tabak, auf der Theke lagen tote Fliegen. Ich achtete nicht auf sein breites Grinsen, das er immer auflegte, wenn jemand in den Laden kam, sondern erzählte sofort, dass Marc vom Baum gefallen war und sich verletzt haben könnte. „Dann wollen wir mal den Doktor rufen.” Er grinste immer noch. „Und du lügst auch nicht?” „Nein!” Mir fielen seine schönen weißen Zähne auf und ich hoffte in dem Moment, dass ich auch mal solche Zähne haben würde. Tom, dessen gepflegte Erscheinung überhaupt nicht in diesen finsteren Kiosk passte, holte ein orangefarbenes Telefon mit Wählscheibe unter der Theke hervor. „Ich rufe jetzt den Notarzt.” Es klang wie eine Drohung, in seinen Augen lag etwas, was mir Angst machen sollte, ich aber bewunderte dieses Funkeln.

 

Ich schaue zu der Stelle, wo der Kiosk früher stand und sehe einen gusseisernen Brunnen. Bis heute ist es für die Dorfbewohner ein Rätsel, was genau mit dem Laden passiert ist. Zwar wissen alle, dass er abgebrannt ist, doch gehen die Meinungen weit auseinander, wie das Feuer Ende der neunziger Jahre ausgebrochen war. „Dieser Heinz war schon immer hinterlistig! Hat die Versicherung betrogen!“, sagte die mir unheimliche Nachbarin mit der Kittelschürze, die immer ungefragt über den Brand sprach, wenn sie an der Brötchentheke im Dorfladen stand. „Und dann ist er abgehauen, ins Ausland.“ Zwei Meter weiter hörte ich beim Gemüsestand einen alten Mann, der im Dorf für seinen Gemüsegarten im Dorf bekannt war. „Der ist mit einer Zigarette eingeschlafen und verbrannt.“

Mein Opa, der sich diese Sätze immer geduldig anhörte, ging nie darauf auf ein.