von Johannes Herbst
Im Zug nach Siegen sitzend. Dem letzten Richtung Siegen an diesem Mittwoch. Mit der entknüllten Zeit in meiner Hand, hing ich nach vorne gebeugt mit meinem kapuzenumhüllten Kopf gegen den Vordersitz gelehnt und versuchte den Artikel im Feuilleton zu entziffern. Der Konsum von drei Longdrinks aus der Dose und mehrerer Äppler hatten sowohl auf meine Sicht sowie auf meine Konzentrationsfähigkeit eine beeinträchtigende Wirkung. Der Artikel ging in ein Interview mit einem Kantianer über. (Irgendwas muss sich wohl mit Kant gejährt haben oder so, schon auf der Seite davor ging es um ihm. Ich fühlte mich ungebildet, aber nicht schlecht deshalb.) In den Fragen und Antworten zur Kritik der reinen Vernunft kamen mir Kants Theorien ungeahnt plausibel und verständlich vor. Doch schon ein paar Zeilen später waren sie aus meinen Kopf gefallen, da mich mein durchnässter Pullover und der penetrante Schweißgeruch immer wieder in den gerade erlebten Abend zurückholten. Ein extravagantes und eskalatives K.I.Z.-Konzert wurde zelebriert. Im Schweifen meiner Gedanken holperte plötzlich die Erinnerung an die anstehende Wortmeldung ins Gedächtnis. Ich überlegte, ob ich nicht etwas über den Abend schreiben könnte, dann roch ich den Schweiß aus meiner Jacke. Schon öfter hatte ich daran gedacht über Schweiß zu schreiben, darüber, dass er meines Erachtens zu unterschiedlichen Anlässen verschieden riecht. An einem durchgefeierten T-Shirt schnupper ich ohne Probleme gerne noch einmal und kann die gute Laune förmlich riechen, doch aus dem verschwitzen Hemd nach einem Uni- und Arbeitstag von 10.00 – 20.00 Uhr befreie ich mich zuhause schnellstmöglich. Aber Schweiß ist vielleicht doch nicht das richtige Thema. Dann rutschte ich gedanklich wieder ab ins Konzert, die Zeitung lag ungelesen in meiner Hand. Plötzlich fiel mir ein Ideengekritzel ein, das ich vor ein paar Monaten geschrieben und in dem mich dieser Abend nur bestärkt hatte:
„Trotz der 1 Grad Außentemperatur läuft mein Körper heiß, ich schwitze mir die Poren frei. Der Geruch von Schnaps und Schweiß in der Nase. Die grellen Lichter blitzen von der Bühne aus durch die Menge und treiben mich bis kurz vor einen epileptischen Anfall. Abrupt verstummen die Boxen und hören auf durch meinen Bauch zu vibrieren. Um mich herum ruft die Masse an Mensch eine „LÜÜCKE!“, ich brülle mit „LÜÜCKE“. Langsam bewege ich mich mit ausgespreizten Armen und der Masse im Rücken schrittweise nach hinten. Vor mir, da wo gerade noch dutzende Feiernde standen, ein Loch, ein hohler Kreis, ein Platz voll Nichts, der verheißungsvoll auf seine Füllung wartet. Die Musik setzt wieder ein, das Licht fängt sanft zu flackern an und dann bricht der übersteuerte Bass auf einmal aus dem Boxensystem. Mit ihm stürmen alle Leute in die Mitte des leeren Platzes. Schubsend, stoßend und mit den Ellbogen nach außen wird auf diesem kleinen Fleck Erde gepogt, was das Zeug hält. Ein Rausch im Rausch. Sich gehen lassen und die Kontrolle abgeben, einfach treiben lassen. Schubsen und geschubst werden. Ich werde zusammengedrückt und schaffe mir stoßend meinen Platz, um mich dann wieder in die Menge zu werfen. Unkontrolliert stolpere ich über irgendetwas und falle, lasse mich fallen, doch lande nicht an einem überhitzten Körper, sondern stürze Richtung Boden. Zwei Leute fallen auf mich. Da unten ist es dunkler und beklemmend. Doch innerhalb von wenigen Bassstößen stehe ich wieder.“
Ich könnte hier jetzt natürlich einen geschichtlichen Abriss des Pogos bringen, mit hermeneutischer Herleitung, Musikrichtung spezifischer Analyse, historischem Exkurs und allem drum herum, aber um ehrlich zu sein, würde ich dann nur das zusammenfassen, was ihr auch googlen könnt. Was ich eigentlich mit diesemText zum Ausdruck bringen wollte, war, dass es schön wäre, würde die Welt ein bisschen mehr Pogo tanzen. Damit meine ich nicht das von außen betrachtet martialische Rumgeschubse, sondern das Gefühl der Menge als Einheit, das Selbstaufgeben und Fallenlassen. Und die gegenseitige Rücksichtnahme, trotz der kompletten Eskalation. Wenn du liegst werden dir direkt mehrere Hände gereicht und jeder wird irgendwie hochgezogen, um sich direkt wieder umstoßen zu lassen.
In diesem Sinne: „Lasst die Titten drin, zeigt die Ellenbogen, Pogen!“(K.I.Z. – Pogen, 2007)