von Viviane-Viola Haase
Kalt und viel zu schwer für seine mickrige Größe liegt er in meiner Hand. Meine Mutter gab ihn mir vor zwölf Jahren, als ich acht war. Ein Morčić in der Form eines Kettenanhängers. Ein Glücksbringer. Wir saßen auf unserer Sorgenbank am Hafen. Dort konnte ich von meinen Ängsten erzählen und sie stiegen in eines der Schiffe und segelten ins offene Meer hinaus. Danach fühlte ich mich besser. Wir schauten aufs Meer und bewunderten seine Farben. Ganz hinten am Horizont war es fast schwarz. Ein tiefes Nachtblau, dessen Oberfläche im Glanz der Sonne silbrig schimmerte und einzelne Funken in den Himmel zu werfen schien. Das glitzernde Nachtblau ging über in ein kräftiges Azur; die Farbe der winzigen Punkte, die den Turban meines Morčićs zierten, gefolgt von einem grünlichen Blau, das wie in einem Aquarellgemälde in ein zartes Türkis verlief, welches in weiß schäumenden Wellen an die Steinwand vor uns schlug, um sich schließlich mit einem leisen Rauschen wieder zu verabschieden.
Doch heute blicke ich in ein graues Nirgendwo. Das Meer macht sich nicht mal die Mühe, einen anderen Grauton als der Himmel anzunehmen, und so scheint es, als säße ich vor einem betongrauen Nichts. Die Einheit aus Meer und Himmel sieht leer aus. So wie ich. Wenn ich eine Farbe wäre, wäre ich grau. Nur das Innere meines Kopfes, das sähe anders aus. Zumindest nicht einfarbig grau. Die Wellen von Gedanken, die durch meinen Kopf brausen, wären ein nicht zu fassendes, transparentes Hellgrau wie die Frage „Wer bin ich?“. „Was werde ich sein?“ wäre noch etwas transparenter. Sie ist noch schwerer zu beantworten. Alleine? Zu zweit? Hier? Im grauen Nirgendwo? Bringt mir der Morčić jemals so etwas wie Glück? Und welche Farbe hat eigentlich das Meer? – Ich schließe die Augen und öffne sie wieder, um festzustellen: Es ist grau. Immer noch Betongrau.
Es ist Karneval. Welche Farbe hat Rijekas Karneval? Tröstendes Grün und warm lächelndes Gelb der lebenden Sonnenblumen. Geheimnisvoll schwingendes Violett der Röcke der Tänzerinnen. Anziehendes Erdbeerrot riesiger Herzen, welche die Wagen der Parade schmücken. Hoffendes Grün der emporsteigenden Ballons, freudiges Kupferrot der im Wind wehenden Haare. Ich stehe am Rande einer Parade und starre ins Nichts. Dieses Jahr ist der Karneval anders. Er ist schwarz. Dunkel. Dunkelbraun. Vollmilchschokoladenbraun. Plötzlich stehe nicht mehr allein am Rand. Jemand steht vor mir. Der Karneval ist grün. Ein dunkles, aber warmes, bräunliches Grün. Seine Augen haben diese Farbe. Seine Haut ist die Schokolade. Er trägt einen Turban mit winzigen azurblauen Punkten. Der lebendige Morčić lächelt. Es wärmt mich. Aus kaltem Betongrau wird vollmundiges warmes Weinrot. Ich erzähle ihm von dem Betongrau. Von dem grauen Loch bestehend aus Himmel, Meer und mir und merke dabei, wie es langsam verschwindet. Er nimmt meine Hand und sagt: „Komm! Ich möchte wissen, welche Farbe das Meer heute hat.“