von Michael Fassel
„Ich hab heute zum ersten Mal öffentlich darüber gesprochen“, erklärt Irma Krauß, nachdem sie über ihren Fast-Absturz im Lechquellengebirge gesprochen hat. Betroffene Stille im Grünen Hörsaal, in dem die Autorin im Rahmen der von Dr. Jana Mikota und Prof. Dr. Mirjam Zimmermann organisierten Ringvorlesung „Religion in der Kinder- und Jugendliteratur“ am vergangenen Dienstagnachmittag (17. Januar) zu Gast gewesen ist.
Religion hat in ihrem Leben immer eine Rolle gespielt. Die 1949 in Unterthürheim geborene Schriftstellerin ist katholisch erzogen worden. „Religiöse Erziehung war in der Kindheit selbstverständlich“, erinnert sich Irma Krauß. Allerdings seien damit Gehorsam und Strenge verbunden gewesen. Schlagworte in der Kindheit waren Fegefeuer oder das Jüngste Gericht. Diese Erziehung habe sie sehr geprägt. „Aber Prägung ist nicht alles. Man sollte sich gegebenenfalls davon befreien. Oder besser überwinden.“ Heute blickt sie kritisch auf ihre Kindheit, in der das „strenge Gesicht der Religion“ dominiert hat mit der „unreflektierten Weitergabe des Jüngsten Gerichts“, sei es vonseiten der Eltern oder des Pfarrers, der „faszinierend viele Haare in den Ohren hatte.“
Für die verheiratete Mutter dreier Kinder spiele Religion in ihrer Familie eine geringere, aber konstante Rolle. Ihr ist wichtig, die Kinder auf positive Weise mit Religion zu prägen. Sie spricht dabei aus eigener Erfahrung. Sie erzählt von ihrer Gratwanderung im Lechquellengebirge im Spätsommer vor einigen Jahren, in der sie beinahe abgestürzt ist und sich nur an einem Felsen klammern konnte. „Das ging unglaublich schnell“, erinnert sich die Autorin. „Ich hatte Angst vorm Jüngsten Gericht.“ Das war weniger ein Gedanke, sondern eine ungeheuerliche Empfindung, die „so grausig war, dass ich sie nie mehr vergessen werde.“ Nach diesem „katastrophalen Impact“, wie sie dieses Geschehnis bezeichnet, plädiert sie an die Studierenden: „Man sollte genau überlegen, mit welchen Überzeugungen man Kinder füttert.“
Als der Verlag Egmont Franz Schneider angefragt hat, ob sie etwas über das Thema Sekte im weitesten Sinn schreiben könne, hat sie zugesagt. So ist 1997 der Jugendroman Esthers Angst erschienen, in dem die gleichnamige 18-jährige Protagonistin, eine Zeugin Jehovas, in einen äußeren und inneren Konflikt gerät, als sie sich verliebt. Allmählich setzt ein schmerzhafter und nachvollziehbarer Ablösungsprozess von der Familie ein.
Bevor Irma Krauß den Roman geschrieben hat, hat sie ein 14-jähriges Mädchen, ebenfalls Zeugin Jehovas, kennengelernt. Sie hat ihr in einem Brief mitgeteilt, dass sie ein bestimmtes Buch von ihr nicht lesen dürfe und ob man es daher umtauschen könne. Die Autorin ist auf die Bitte eingegangen, allerdings hat sie sich nie nur mit diesem Mädchen treffen können, da entweder die Mutter oder eine der Geschwister dabei gewesen ist. Dass die Eltern ihr ein harmloses Buch verboten haben, hat Irma Krauß keine Ruhe gelassen. Sie habe die Familie auch besucht und sich intensiv mit ihr auseinandergesetzt. Dabei ist sie mit Schriften und einem Werbevideo überschüttet worden. „Und dann hab ich das Buch geschrieben.“
Als Reaktion auf Esthers Angst hat die Autorin zahlreiche Briefe und E-Mails bekommen. Eine 28-jährige Frau hat ihr beispielsweise geschrieben, dass das ein wunderbar geschriebenes und detailgetreu recherchiertes Buch sei. Die junge Frau war selbst bei den Zeugen Jehovas und empfindet den Roman sogar als ein tolles Buch für Aussteiger. Insofern zeigt nicht nur dieses Beispiel, wie wertvoll gute Jugendliteratur sein kann, die sich auch Themen widmet, vor denen andere möglicherweise zurückschrecken.