Fortsetzungsroman Kreuzfahrt

Kapitel 6

von Lisa Pilhofer

Maria öffnete die Tür einen kleinen Spalt und statt des seltsamen Ehepaars erblickte sie ihre roten Pumps, hochgehalten von ihrem vermeintlichen One-Night-Stand, der sie schüchtern angrinste. Verdutzt öffnete sie die Tür weiter und starrte abwechselnd auf ihre Schuhe und den grinsenden Pianisten. Zuerst freute sie sich, die schönen Pumps wiederzubekommen, und sie wollte schon die Arme ausstrecken, um sie entgegenzunehmen, einhergehend mit kurzen, aber freundlichen Worten des Dankes. Doch ein plötzlicher Gedanke verhinderte diese Geste: Woher hatte er jetzt ihre Zimmernummer? Kannte hier denn jeder ihre Zimmernummer? Ist in der letzten Nacht mehr passiert, als ein kleiner One-Night-Stand? War sie jetzt die Schiffs-Schlampe? Sie wurde wieder nervös und war kurz davor, die Tür sofort wieder zu verschließen. Ihr Schweigen verunsicherte den Pianisten und sein Grinsen erschlaffte.

„Ähm… also… ich habe hier…“ – er wedelte leicht mit den Pumps in der Luft – „deine, Ihre…ähm… die Schuhe. Hier.“ Energisch streckte er die Hand aus, die die Schuhe hielt und zwang Marie damit regelrecht, sie endlich zu nehmen. Marie sagte immer noch nichts, also beschloss Eon, nun leicht genervt, dass ein weiterer Versuch, sie in ein Gespräch zu verwickeln – ihn interessierte vor allem, wie die letzte Nacht gewesen war, er konnte sich an absolut nichts erinnern – offensichtlich vergebens war, also räusperte er sich kurz und sagte: „Ja, also dann, ich muss los. Ich spiele heute Abend wieder Klavier. Im Dinner-Saal. Also… ja dann…“ Und er ging. Marie schaute ihm misstrauisch hinterher. Als er um die Ecke bog, hörte sie die Stimmen von Herrn Wienkaamp und seiner Frau, die der Pianist wahrscheinlich versehentlich angerempelt hatte. Die drei tauschten Entschuldigungen aus und Frau Wienkaamp machte dem Pianisten Komplimente und dass sie sich ja so wahnsinnig auf seinen Auftritt heute Abend freue. Breit lächelnd kam das Ehepaar in Maries Blickfeld, als sie sich gerade die Espadrilles mit den Pumps austauschte.

„Ah! Frau Herchenröther! Wie schön, Sie sind schon fertig. Dann auf zum Champagner!“ Das Ehepaar hakte sich rechts und links von Marie unter und bugsierte sie fröhlich lachend zum Dinner-Saal.

Der Saal war voll. Das lag wohl weniger am Abendessen, das ab sieben Uhr bestellt werden konnte, sondern an Eon Reichenbach, der ein besonders beliebter Musiker zu sein schien, vor allem bei der holden Weiblichkeit: die Tische vor der Bühne waren besetzt mit Frauen allen Alters, sehr wahrscheinlich alles Singles, da sich Frauen mit männlicher Begleitung neben dieser saßen und den Pianisten von etwas weiter entfernt anhimmelten mussten. Eon, der geduldig seine Noten sortierte, sich aber gleichzeitig der schmachtenden Blicke der Damen wie auch den missbilligenden der Herren mit schmachtender Begleitung, bewusst war und beides vollkommen genoss.

„Sicher kennen Sie den Herrn Reichenbach, nicht, Frau Herchenröther?“, fragte Frau Wienkaamp, als sie sich setzten und ihr Mann den Champagner bestellte. Fast hätte Marie „ja“ gesagt, aber sie wollte dem Ehepaar dann lieber doch nicht erzählen, dass ihre Bekanntschaft mit Eon Reichenbach aus einem offensichtlich geschlechtsverkehrfreien One-Night-Stand bestand, der just letzte Nacht stattgefunden hatte. „Nein, noch nie von ihm gehört. Wie gesagt, ich habe schon lange nicht mehr Klavier gespielt, geschweige denn mich weiter in der Musikszene beschäftigt. Und bitte, nennen Sie mich doch Marie.“ Sie konnte ihren richtigen Nachnamen noch nie leiden, der ohne Glanz war und so furchtbar ordinär klang.

Der Champagner wurde serviert, und während Herr Wienkaamp mit dem Kellner scherzte und Frau Wienkaamp übertrieben dazu lachte, schaute Marie sich kurz im Saal um. Sie sah ihren Kabinen-Nachbarn, den seltsamen Rentner, zwei Tische weiter sitzen. Er schien zu Marie zu schauen, doch sobald er bemerkte, dass sie ihn ansah, wendete er sich abrupt der Speisekarte zu. Ihr fiel wieder das seltsame Telefongespräch ein. „Frau Herchenröther… Marie. Hier, Ihr Glas.“ Frau Wienkaamp riss sie aus ihren Gedanken. Sie stießen an und über ihr Glas hinweg erblickte sie wieder zwei Tische weiter, diesmal auf der anderen Seite, ihren Traubenzucker-Traum-Typen aus La Romana, der ihre Blicke erwiderte, ja, ihr sogar leicht zuzwinkerte! Zumindest kam es ihr so vor und sie verschluckte sich fast an ihrem Champagner. Eon Reichenbach fing an zu spielen. „Hach! Dieser Reichenbach ist ein richtiger Virtuose. Aber natürlich kann er Ihnen nicht das Wasser reichen, Sie waren absolut hervorragend bei der Veranstaltung vor ein paar Wochen, haha!“, sagte Frau Wienkaamp und Marie hatte den Eindruck, dass die Fröhlichkeit der Wienkaamps irgendwie gestellt war, ihr Lächeln wirkte nicht ganz echt. Und sie hatten Unrecht: Eon Reichenbach spielte wesentlich besser als sie, was sie mit einem kleinen Stich und einem Anflug von Neid feststellen musste. „Ich sagte Ihnen doch schon, ich habe schon lange nicht mehr Klavier gesp–“ Plötzlich nahm sie den Geruch von Traubenzucker wahr und bemerkte Mr. Perfect aus La Romana, der neben ihr stand und sie tatsächlich ansprach. „Bitte verzeihen Sie die Störung, aber jetzt, da ich Sie erkannt habe, muss ich Sie einfach ansprechen, Señora Herchenröther! Sie sind so eine wunderbare Pianistin, dürfte ich Sie um ein Autogramm bitten?“ Marie war perplex. Woher zum Teufel kannten sie so viele Leute, obwohl sie seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr aufgetreten war? Und wieso erkannte ausgerechnet er, dieser Traummann schlechthin, sie erst jetzt? Die Wienkaamps schauten genervt – vielleicht dachten sie, sie wären die einzigen, die Marie kannten, wenn das überhaupt stimmte. Trotz ihrer Verwunderung war Marie auch ein bisschen geschmeichelt, und so nahm sie den Zettel, den er ihr reichte, entgegen und setzte schwungvoll ihren richtigen Namen drauf. Traubenzucker-Traummann drückte den Zettel fast zu theatralisch an sein Herz und reichte ihr mit überschwänglichen Worten des Dankes die Hand, schüttelte sie sanft, gab ihr sogar noch einen Handkuss, und verschwand so plötzlich, wie er gekommen war. „Oho, da haben Sie aber einen feschen Verehrer“, kicherte Frau Wienkaamp und nippte an ihrem Champagner. Marie lächelte verhalten zurück. Als das Essen serviert wurde, nutzte Marie diese kurze Ablenkung der Wienkaamps, um ihre Hand, die verkrampft auf ihrem Schoß lag, zu inspizieren: Ihr La Romana Mann hatte ihr beim Händeschütteln heimlich einen weiteren Zettel überreicht, auf dem sie nun folgende Worte lesen konnte: Sie sind in Gefahr.