von Wiliam Mertens
Tanzend, mit suchenden Bewegungen bewegt sich ein achtjähriges Mädchen mit angenähten Schmetterlingsflügeln durch den heimischen Garten – eines von vielen metaphorisch aufgeladenen Bildern auf der 70jährigen Berlinale, die sich ebenfalls nach dem Wechsel der Festivalleitung von Dieter Kosslick zu Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek neu entwickeln muss. Der Garten stellt für die Protagonistin des berührenden französischen Dokumentarfilms Petite fille von Sébastien Lifshitz aus der Festival-Sektion „Panorama Dokumente“ einen sicheren Raum dar, in dem sie sich frei entfalten kann. Ihre Familie akzeptiert Sasha so, wie sie ist: Im Körper eines Jungen geboren, identifiziert sie sich schon seit ihrer frühen Kindheit als Mädchen. Doch in sehr aufwühlenden Interviews werden zum Teil Unverständnis und Druck durch die Gesellschaft sowie die daraus resultierenden psychischen Auswirkungen auf Sasha und ihre Familienangehörigen spürbar, die darum kämpfen, dass Sasha u.a. als Mädchen gekleidet zur Schule gehen darf. Insgesamt gelingt Lifshitz ein tiefschürfendes, engagiertes Plädoyer für Selbstbestimmung und Akzeptanz, das Sasha und ihrer Familie auf Augenhöhe mit Würde begegnet, nah an ihnen dran ist, nie reißerisch wirkt und dadurch zu echter Anteilnahme einlädt.
Die Schmetterlingsmetaphorik zieht sich auch durch einen weiteren besonders gelungenen Festival-Beitrag – diesmal aus der Jugendfilm-Sektion „Generation 14plus“ – und zeigt sich bereits im Titel: Kokon von Leonie Krippendorff. Bei der stimmungsvollen Premiere im Urania-Kino sind neben der Regisseurin, den Schauspieler*innen und weiteren Mitgliedern des Filmteams auch zahlreiche Gäste anwesend, die das Setting des Films – Berlin-Kreuzberg – gut kennen, was sich an Reaktionen während der Vorführung ablesen lässt. Der Coming-of-age-Film zeigt den teilweise sehr schmerzhaften Prozess des Erwachsenwerdens der 14jährigen Nora (Lena Urzendowsky), die mit ihrer älteren Schwester Jule (Lena Klenke) und ihrer selten für die Kinder erreichbaren Mutter Vivienne (Anja Schneider) in einer kleinen Wohnung am Kottbusser Tor lebt. Die Enge der Wohnung und vor allem des Zimmers, das sich die beiden Schwestern teilen müssen und in welchem Nora eine Raupe züchtet, wird durch das heutzutage eher ungewöhnliche 4:3-Bildformat hervorgehoben. Auch das lokale Schwimmbad isoliert Nora zunächst. Zu Beginn sagt ihre Stimme aus dem Off: „Wir sind wie Fische im Aquarium. Wir schwimmen immer im Kreis. Von der einen Seite des Kottis zur anderen und wieder zurück, solange bis wir irgendwann aus dem Becken springen.“ Später jedoch erlaubt ihr das Schwimmbad-Setting erste Blickkontakte und schließlich weitere Abenteuer mit der etwas älteren Romy (Jella Haase, die auch im diesjährigen Wettbewerbsbeitrag Berlin Alexanderplatz von Burhan Qurbani eine eindrucksvolle Präsenz zeigte). Erst als Nora ihr näherkommt, weitet sich das Bildformat mit den ersten sexuellen Erfahrungen der Jugendlichen in betörend schönen Nah- und Naturaufnahmen. Selten wurden die Suche nach Nähe, die Veränderung des eigenen Körpers, die erste Menstruation und der erste Geschlechtsverkehr so sensibel und authentisch dargestellt wie in diesem sinnlichen Jugendfilm. Unterstützt durch die Kameraführung, die oft nah an Nora und ihren Emotionen bleibt, und der glaubwürdigen Performance von Lena Urzendowsky, schafft es Kokon, die Entwicklung der Protagonistin berührend zu vermitteln. Am Ende ist der Fisch aus dem Schwimmbecken gesprungen, hat sich die Raupe zu einem Schmetterling gemausert und hat das Publikum Noras Entfaltung tief nachgespürt.
Noch ein deutscher Film – nun aus der Sektion „Perspektive Deutsches Kino“ – benutzt die Fisch-Metaphorik schon im Titel und lotet das Verhältnis zwischen Nähe und Distanz spannend, allerdings deutlich kühler und weitaus weniger empathisch als Kokon aus: Ein Fisch, der auf dem Rücken schwimmt von Eliza Petkova. Auch hier fällt eine eindrucksvolle Raumnutzung auf, welche die Entwicklung einer merkwürdigen Dreiecksbeziehung unterstreicht: Die enigmatische Pädagogin Andrea (Nina Schwabe) zieht bei ihrem verwitweten Freund Philipp (Henning Kober) ein und erzürnt damit dessen Sohn Martin (Theo Trebs), der allerdings bald Andrea begehrt und mit ihr eine Affäre beginnt. Die raffinierte Bildkomposition hebt durch auffällig markierte räumlich-metaphorische Barrieren die sich zunehmend verschiebenden Grenzen, Annäherungen und Abstoßungen, Heimlichkeiten und somit äußerst dynamischen Machtverhältnisse hervor. Nicht nur die Verbindungen zwischen den einzelnen Zimmern im Haus der Patchwork-Familie, der Übergang von Haus und Garten sowie der darin befindliche Pool, sondern auch das Setting des Waldes mit seinen undurchsichtigen Wegen und Höhlen u.a. bei einem Versteckspiel während eines Familienausfluges schärfen das Spannungsverhältnis zwischen den drei Hauptfiguren. Wenngleich der Film dadurch Spannung bis zum Ende aufkommen lässt, bleiben die Figuren (besonders Andrea) insgesamt in ihren Charakterzügen zu unsympathisch und in ihren Handlungsmotiven zu rätselhaft, was allerdings auch einen gewissen Reiz entwickelt und wodurch man sich umso analytischer auf filmische Elemente wie die Raumgestaltung konzentrieren kann.
Deutlich em- und sympathischer und dabei emotional wesentlich befriedigender reißt die französische Komödie Effacer l’historique der Regisseure Benoît Delépine und Gustave Kervern mit, die hierfür einen Silbernen Bären mit dem einmaligen Spezialtitel „70. Berlinale“ gewonnen haben. Die zahlreichen, quer durch den großen Saal schallenden Lacher aus allen Richtungen während der Premiere im Berlinale-Palast zeugen von einer starken Identifikation mit den Problemen und zum Teil wirklich abstrusen Situationen der drei Hauptfiguren: Marie (Blanche Gardin) wird mit einem Sexvideo erpresst und versucht es auf großen (und dabei höchst amüsanten!) Umwegen zu löschen, damit ihr Sohn nichts davon erfährt. Spätestens als sie bei einem kostenlosen (aber mit einer gewissen Gebühr pro Minute berechneten?!) Telefonat völlig desorientiert ihre Benutzernamen und Passwörter sucht und ein wahres Labyrinth dieser Chiffren im Kühlschrank (!) offenbart, fließen einige Tränen vor Lachen. Zahlreiche (Werbe-)Anrufe spielen auch im Leben von Bertrand (Denis Podalydès), dessen Tochter unter Cyber-Mobbing leidet, eine wichtige Rolle, denn er fühlt sich von der Stimme einer Callcenter-Mitarbeiterin angezogen. Taxifahrerin Christine (Corinne Masiero) leidet derweil die unter TV-Serien-Abhängigkeit und unter schlechten Online-Bewertungen ihres Unternehmens. Als das Trio sich zusammentut, um den Konzernen den Kampf anzusagen, nimmt die Satire immer absurdere Wendungen an und spiegelt gerade dadurch köstlich die alltäglichen Absurditäten, in denen wir uns als Publikum nur allzu gut in der heutigen vom Internet und von Firmen zunehmend (fremd-)bestimmten, schnelllebigen Welt wiederfinden.
Was das Regie-Duo außerdem für ihren geistreichen und witzigen Film inspiriert hat, lässt sich in der Pressekonferenz auf der Berlinale-Homepage nachschauen. Für einen erhellenden und entschleunigten Austausch über das Gesehene zwischen Publikum und Filmschaffenden sorgen übrigens die Q&A-Runden nach den meisten Filmvorführungen. Der Autor wünscht sich beim Schreiben dieser Zeilen in der ebenfalls entschleunigten Corona-Isolation nur wenige Wochen nach dem Festival die gesellige, anregende Atmosphäre der Berlinale-Kinoerfahrungen zurück – in der Hoffnung, dass sich die Menschen und die Kinos von der aktuellen Krise schnellstmöglich erholen werden und die Kinosäle in absehbarer Zeit wieder zu einem sicheren, fruchtbaren und inspirierenden Begegnungsort werden.