19.01.2015: Lyrische Konservendosen

von Laura Schönwies

„Stimmt schon heutzutage … Leider“

Meine Augen bleiben an diesem Kommentar haften. Mein Zeigefinger hält inne – er scrollt nicht weiter nach unten. Ich hebe ihn an. Soll ich auf „Gefällt mir“ klicken?

Auch meine Facebook-Startseite zeigt mir den Tweet der 17-jährigen Naina aus Köln, die im sozialen Netzwerk beklagte: „Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ´ne Gedichtanalyse schreiben. In 4 Sprachen.“ Damit löste die Schülerin eine Diskussion aus über den Sinn und Unsinn des Lehrplans und seine Tauglichkeit für das sogenannte „wirkliche Leben“. Zahlreiche „Follower“ folgten ihrem Beispiel und stimmten der Schülerin zu. Andere Stimmen sagten, die Schule solle eher auf das Berufsleben vorbereiten. Weitere Fertigkeiten gehörten doch eher zur Grundausbildung im Elternhaus.

Und was denke ich darüber?

Zugegebenermaßen bewege auch ich mich  als Studentin noch auf wackligen Beinen, was die genannten Themenbereiche angeht. Wie gut, wenn man beim Mietvertrag doch noch mal den Papa fragen kann. Als ich zurückdenke, höre ich im Echo meiner Vergangenheit den oft geäußerten Satz meines schülerischen Selbst: „Und wofür brauchen wir das später einmal?“  Ich weiß noch genau, wie eine Freundin und ich feststellten, dass wir zwar einen Meerbusen auf Spanisch benennen können, aber unser Wortschatz nicht einmal dazu reichen würde Brötchen zu bestellen. Eine Spalte im Stundenplan sollte daher mit täglichen Herausforderungen belegt werden.

Hat die Schülerin also vollkommen recht?

Als Studentin der Literaturwissenschaften und obendrein als „LiteraListin“ kann ich den Vorwurf gegen die Gedichtanalysen natürlich nicht so stehen lassen!

Was hat mich zu meiner Schulzeit an Gedichtanalysen so fasziniert? Für mich hatte es etwas von einer Spurensuche. Schritt für Schritt, Hinweis für Hinweis kamen wir einem scheinbar verborgenen Geheimnis immer näher. Wir wetteiferten im Deutsch-LK darum, wer als Erster ein wichtiges Puzzleteil aufdeckt – ein großes Verdienst unseres damaligen Lehrers, der unser Interesse geweckt hat und uns stets neugierig machte und anspornte! Gerade in jungen Jahren, wenn erstmalig die Schmetterlinge im Bauch anfangen zu flattern und das Herz häufig nicht darauf hört, was der Kopf sagt, scheint es so, als ob Gefühle etwas völlig Ungreifbares seien, das  man nicht fassen kann. Mich hat es fasziniert, wie Goethe und Co. es dennoch über Sprache, Bilder, Symbole, Strukturen und Rhythmen schafften, diese Geister einzufangen und sie sogar mittels Rhetorik im Leser erzeugen konnten! Gedichte waren so etwas wie Konservendosen für mich, in denen sich Gedanken und Gefühle sicher verschließen und aufbewahren lassen, um sie bei Bedarf wieder herauszunehmen. Der Vorteil ist, dass sie niemals ablaufen und auch noch nach hunderten von Jahren ihre volle Wirkung entfalten können. Wie schade wäre es gewesen, wenn wir in Versicherungs-Kunde gesessen und somit niemals diese Erfahrungen gemacht hätten?! Ohne diese Eindrücke wäre ich wohl nicht auf den Geschmack gekommen und würde nicht meine „Wortmeldung“ in die Tasten tippen.
Die Analysen regen zum Denken an. In welcher Zeit hat der Autor gelebt? Welche Umstände haben ihn beeinflusst? Ich lerne Menschen und Geschichte kennen. Ich lerne, fremde Meinungen zu hinterfragen, zu akzeptieren und meine eigene zu bilden. Ganz zu schweigen von  den großen Kunstwerken, die sich hinter Strophen und Versen verbergen!

Meine Abiturklausur schrieb ich über das Gedicht „Sprache“ (1976) von Rose Ausländer. Es erschien mir in der Auswahl äußerst angebracht, meine Schulzeit mit einem Gedicht über die Liebe zur Sprache abzurunden, um dann mit einem Studium der Literaturwissenschaft dort anzuschließen. Es war also nicht umsonst!

Ich hab dann mal halbherzig auf „Gefällt mir“ geklickt…