09.02.2015: Vom Meer verschluckt

von Sebastian Wilhelm

Ich möchte euch ein wenig für das Meer begeistern und nehme euch mit auf eine auf eine Reise.
So als hättet ihr letztes Nacht zu lange verträumt in einen dunklen Teich geschaut, nehme ich euch nun hinab in die weiten unendlichen Tiefen, aus denen ihr so schnell nicht wieder herausfinden werdet. In einer ominösen sphärischen Welt, in der kein Licht mehr hindurch bricht.
Gespenstisch stürzte der seichte Meeresgrund meterweit in die Tiefe und alles um uns herum tränkte sich plötzlich in einem azuren Blau, was stetig dunkler wurde, je tiefer wir fielen.
Nach und nach sank unser Schiff in die Tiefe, wie der stetig ansteigende Tiefenbarometer verdeutlichte, der auf 3000, 4000, 5000, und schließlich 6000 Metern empor kletterte. Mit ihm wanderte auch der Druckbarometer bedenklich nach oben. Ein ständiges Knattern und Vibrieren durchzog den Rumpf des Schiffes.  Und nehmen wir nun an, die Panzerung unseres stählernen Tiefenkolosses würde dem Mordsaußendruck von 1.000 bar und mehr nicht standhalten, so  würden wir binnen eines Sekundenbruchteils komfortabel auf Papierdicke zusammengepresst werden.
Aber keine Bange – heute geht alles gut.
In diesen Tiefen sieht das Leben völlig aus, wobei der Mensch bisher nur an der Oberfläche dieses gigantischen Makrokosmos gekratzt hatte, und wahrscheinlich das weite Weltall besser versteht als die achtzig Prozent des Meeres, die tiefer als tausend Meter liegen. Das, was wir aber bereits wissen und verstehen (gerade mal 1 %, so sagen die Forscher), übertrifft  bei weitem unsere Vorstellungskraft. Denn vor nicht mal 100 Jahren galt die Tiefsee als ein toter Fleck, ein Ort, an dem Leben niemals existieren würde.
Auf den ersten Blick würde uns tatsächlich hier alles grau erscheinen, doch ohne dabei floskelhaft zu klingen: Die Tiefsee ist bunt!
Eine Finsternis war hier nie von Dauer. In der Ferne blitzte es auf einmal und schon bald zogen die Konturen kleiner funkelnder Fische über unser Acrylkuppeldach. Schlierenförmige Muster, ganze Feuerwellen und blinkende Miniatur-Ufos schnellten an der Glaswand vorbei und verzückten jeden Zuschauer. Zu den schönsten Errungenschaften, die die Tiefseebewohner im Verlauf ihrer langen Evolution entwickelt hatten,  zählte ohne Zweifel der Effekt der Biolumineszenz, die die meisten Tiere hier zum Leuchten brachten. Sein Verwendungszweck ist vielseitig. Es dient sowohl der Kommunikation, als auch für die Partnerbalz, und wird von einigen flinken Jägern imitiert, um Beute anzulocken.
Überall um uns pulsierten aufflackernd Fische und Meerestiere, wie Sternschnuppen, die an uns vorbeirauschten. Ein Schwarm blau leuchtender Quallen trieb mit ihrem Schirm pulsierend in die Höh und ließ sich dann wieder majestätisch in die Tiefe gleiten.
Ein Kalmar, mit ungewöhnlich langen und 90° geknickten Tentakeln schwebte im Wasser und fing vorbeirauschende Wasserasseln. Hierbei handelt es sich um einen wenig erforschten Zeitgenossen, den Langarmkalmar, der schneller, als er gekommen war, wieder im unendlichen Nichts verschwand.
Ein Schwarm Grandierfische, eine der häufigsten Tiefseekreaturen, schlummerten auf unserer Glasscheibe und genossen es wohl von uns mitgezogen zu werden. Diese kleinen Kerle haben wegen ihrer lang gestreckten Schwänze den Beinamen Rattenschwänze von den Forschern bekommen und hielten selbst ein Leben in Tiefen stand, wo andere Fische wegen des Drucks schon längst zu Brei zermalmt wären. Der Grund hierfür war TMAO, oder  noch komplizierter ausgedrückt Trimethylaminoxid. Ein körpereigener Stoff, der Proteine in den Zellen der Fische gegenüber dem wahnsinnigen Druck stabilisiert.
Die Wirklichkeit vieler Meerestier musste allerdings sehr beschränkt sein. Denn viele primitive Fische hatten ab solchen Tiefen nur noch sehr primitive Augen besessen, – bei manchen Tieren hatten sich die Augen zu kleinen unbeweglichen Punkten zurückentwickelt, die das Sehen nur noch rudimentär möglich machten. Das Sehen beschränkte sich hierbei auf zwei Dinge: Hell und Dunkel.
Farbsehen? Fehlanzeige! Die Dunkelheit oder besser ausgedrückt: „Das große Nichts!“, nahmen die Augen hierbei in der Regel in 99 % der Fälle wahr.
Die Existenz als kleiner Tiefseebewohner war zugegebenermaßen recht finster, trostlos und grau. Das Einzige, auf das man sich verlassen konnte, war eine gute Nase, die einen zielsicher zum nächstbesten Tiefseebüffet leitete.
Und trotz all dem, manchmal gab es  einen kleinen grellen Blitz, der selten von den Rezeptoren unserer kleinen Fische aufgefangen wurde, und der von der leuchtenden Biolumineszenz eines anderen Tieres stammte. Hier herrschte für Tiefseefische folgende Devise: „Wenn es Bling-Bling vor einem macht, musste man zuschnappen, ansonsten entgingen einem leckere Fischstäbchen und Krabbenchips.“
Auch das Partnerwahlverhalten der Tiere ist gelinde gesagt ausgefallen, oder  sagen wir es mal so, die meisten Tiefseefische sind richtige Pragmatiker.  So waren bei den Tiefsee-Anglerfischen  die Weibchen meist wesentlich größer als die Männchen. Um ehrlich zu sein, waren die Männchen kümmerlich klein, meist nicht länger als wenige Zentimeter. Die Weibchen hingegen waren meist füllig und erreichten  ein  stattliches Körpervolumen von gut 40 Zentimetern. Bis das Männlein sie fand, lebten sie autonom, konnten sich selbstständig ernähren und  somit ohne große Mühe das Tiefseeleben überleben. Die einzige Aufgabe des Kümmermännchens bestand darin, sich ein passendes Weibchen zu angeln.
Sobald das Männchen ein Weibchen gefunden hatte, war es weder ein Anflug von Romantik oder Liebe, die diesem entgegen gebracht wurde.
Nein, das kleine Männchen biss sich einfach ganz, ganz unromantisch am Weiblein fest und ließ von nun an nicht mehr von ihr ab.
Organische, kapillare Auswüchse, die mit der Zeit aus dem Maul des Mannes unschön herauswuchsen, schlängelten sich parasitär um die Bisswunde fest, und verwuchsen an dieser Stelle. Von nun an war alles, was das Männchen lange Zeit für sich allein gemacht hatte: Atmen, Essen, Blutkreislauf – untrennbar mit seiner Partnerin verbunden.
Mit anderen Worten: Sie waren eins!
Das Weibchen versorgte ihn mit allem, was er zum Überleben brauchte. Im Gegenzug durfte das Männchen jedes Mal freudig kopulieren, wenn das Weibchen laichbereit war, ja sein einziger Sinn und Zweck bestand nun darin, die Eier zu  befruchten und gut neben seiner Partnerin auszusehen, die ihn überall hin mitzuschleppen pflegte. Im Gegensatz zum Partnerwahlverhalten unserer viel zitierten und medial beachteten „Generation Y“ scheint es sich hierbei tatsächlich um eine echte dauerhafte Verbundenheit zu handeln.
Man sieht, ich bin vom Meer verschluckt, könnte stundenland darüber reden, darin in Gedanken versinken. Gleichzeitig drehen sich meine Gedanken nun vielmehr auch um dessen Schutz. Doch ich erkannte irgendwann, dass interessiert das Tiefseeleben nicht wirklich.
Denn die Tiefsee hatte es bisweilen immer geschafft, jede Katastrophe zu überstehen. Immer dann, wenn auf der Erde ein großes Massensterben wieder salonfähig wurde, zeigte sich, wie unbeeindruckt die Tiefsee diese Desaster hinnahm. Während das Leben auf dem Land bereits schon öfters zu Staub verfallen war, waren zur gleichen Zeit in der Tiefsee anaerobe Strudelwürmer damit beschäftigt gewesen, aus hydrothermalen Schloten stinkenden Schwefel zu fressen, den sie nachher aus sich heraus pupsten, so als ginge ihnen gerade alles am Allerwertesten vorbei, was sich Zeit ihres Daseins an der Oberfläche abspielte. Sie lebten an Schwarzen Rauchern, die sich wie große heiße Schornsteine, meterhoch empor türmten; wie kleine unscheinbare Oasen wirkten diese in der weiten Tiefsee. Diese Würmchen lehrten uns eins:  Nämlich wie widerstandsfähig das Leben in seinem primitivsten Grundzügen noch sein kann und wie es jeder Gewalt trotzen kann, die es auslöschen wollte. Und sie lehren uns, dass sie uns überleben werden, wenn der Primat Mensch bereits das Zeitliche gesegnet hatte.