von Michael Fassel
„Das Wohnzimmer sieht aus, als wäre es geplündert worden: Wo der Fernseher an der Wand hing, ist ein helles Rechteck auf der weiß getünchten Klinkerwand […] (S. 155).“ Was hier der Beschreibung nach wie ein Raub anmutet, ist keine Szene aus einem Krimi, sondern ein Einblick in die Gefühlslage eines Sohnes, der am Vortag seinen dementen Vater in ein Seniorenheim gebracht hat. Wenn nahe Angehörige dement werden, ist das oft ein Anlass, darüber zu schreiben. So auch David Wagners neuestes Buch Der vergessliche Riese, in dem der erzählende Sohn über seinen Vater schreibt, der allmählich sein Gedächtnis und auch peu à peu seine Autonomie verliert. Doch so tragisch sich dies zunächst anhören mag, ist der autobiographisch gefärbte Text nicht, der bewusst auf eine Gattungsbezeichnung verzichtet.
Der vergessliche Riese, für den Wagner jüngst den Bayerischen Buchpreis erhalten hat, liest sich wie ein Roman, durchsetzt mit einer Menge von Dialogen, mit denen die Vater-Sohn-Beziehung nach der Demenzdiagnose neu justiert wird. Überhaupt sind Dialoge sehr dominant, bestehend aus Fragen des Vaters und Antworten des Sohnes – bis die eingangs gestellte Frage des Vaters am Ende erneut gestellt wird, hat er doch die erste Antwort wieder vergessen. Den tragikomischen Gesprächen und der geduldigen Zugewandtheit des Sohnes steht man als Leser*in gleichsam verblüffend gegenüber. Und genau das macht Wagners Buch so stark, der seinen alten Vater (neu) kennenlernt.
Obgleich die deutschsprachige Literatur in jüngster Zeit ähnliche Konstellationen in Tilman Jens‘ Demenz – Abschied von meinem Vater (2009) oder Arno Geigers Der alte König in seinem Exil (2011) hervorgebracht hat, ist David Wagners Der vergessene Riese etwas Neues, Unverbrauchtes und Erfrischendes. Er dramatisiert nicht in einem larmoyanten Duktus wie Jens und neigt auch nicht zur Reflexionsprosa, wie sie teils bei Geiger zu finden ist. Ganz im Gegenteil: Wagner präsentiert einen leisen Text, gespickt von Unterhaltungen und verblichenen Erinnerungen des Vaters, der trotz seiner Demenzerkrankung noch teilnehmen darf am sozialen Leben. Beide fahren gemeinsam zum Essen, streifen durch Bonn und Umland und fast beiläufig entfaltet sich auf den gemeinsamen Spaziergängen und -fahrten eine Erinnerungslandschaft an die einstige Hauptstadt der Bundesrepublik: „Links liegt das Museum König, rechts der U-Bahnhof Auswärtiges Amt, die Station heißt noch immer so, dabei befindet das Ministerium seit Jahrzehnten in Berlin (S. 110).“ Wagner gelingt es, die Gegenwart geschickt mit der Vergangenheit seines Vaters zu verbinden. Mit der Schilderung biographischer Momente wird zugleich eine historische Komponente in den Text gepackt. David stellt sich vor, wie sein Vater mit im Hofgarten 1968 gegen die Notstandsgesetzgebung demonstriert hat; an anderer Stelle erinnert sich Valentino wiederum bei einem Spaziergang durch das ehemalige Regierungsviertel an das alte Bundestagsgebäude. Beim Lesen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es hier nicht primär ein Buch über das Vergessen ist, vielmehr schreibt Wagner gegen das Vergessen an, sich vergewissernd, dass das kollektive Gedächtnis noch intakt ist, in dem sein Vater einen wichtige Rolle übernimmt und nicht zuletzt Zeitzeuge des Nachkriegsdeutschlands ist.
Die präzisen Ortsangaben von Plätzen wie den Bertha-von-Suttner-Platz im Herzen Bonns oder des tatsächlich existierende Restaurants Die Küche (im übrigen eine klare Empfehlung auch meinerseits!) im 16 Kilometer entfernten Rheinbach holen uns immer in die Gegenwart zurück. Schlussendlich sprechen die Dialoge und die Gedanken des Sohnes ihre eigene, weiche Sprache. Es ist mehr als ein Buch über Demenz, es vermittelt auf seine ganz individuelle Weise eine unaufgeregte Tragik, die so subtil ist, dass man trotz der Thematik etwas Lebensbejahendes für sich mitnehmen kann. Dies mag vor allem an der Vaterfigur liegen, die sich ihrer Vergesslichkeit bewusst ist und aufs Korn nimmt.