Abgeschlossen

von Michael Fassel

Nach siebzehn Monaten bohrte sich der Schlüssel mit dem kleinen schwarzen Griff und der dreistelligen Nummer durch die Jeanstasche. Ein Eigenleben hatte er dabei keineswegs entwickelt, vielmehr war das Loch das Ergebnis einer langen Reibung, entstanden durch ständige ruckartige Bewegungen des Schlüsselbesitzers. Mit einem Florett in der Hand, das er immerzu in den Himmel stieß, anstatt seinem Duellanten zu beweisen, wer von beiden geschickter mit diesem Phallussymbol umging, platzte die Hosentasche Naht für Naht, bis der kleine Schlüssel lautlos durch die Jeans im Gras landete.

Wenige Stunden später geriet er in Panik. Weg war der Zugang zu seiner kleinen Welt, die er so sauber versteckt hatte. Nichts war sicherer als die weiße Schließfachtür, kein Tresor bot mehr Schutz, denn diese erkannten Profis als solche und die ganz besonders schlauen unter ihnen wussten sie auch zu knacken. Ein Tresor bei einer Bank würde womöglich noch Miete kosten, keine lächerlichen zwei Euro Pfand.

Während er mit schweißnasser Stirn Wege abging, auf denen der Schlüssel liegen könnte, ahnte er nicht, dass er sich schon längst in den Händen eines anderen befand. Jemand, der so gewissenhaft war, das mickrige Fundstück dort abzugeben, wo man es zurücklegt, bis der Besitzer sich meldet. Doch der Finder machte noch einen Umweg, nämlich zum passenden Schließfach. Er machte große Augen, als er es eines finsteren Abends kurz vor Mitternacht aufschloss und mit einer Taschenlampe ausleuchtete, in der Hoffnung, von niemandem beobachtet zu werden. Er zog seine Schirmkappe tiefer, als er die gehorteten Dinge betrachtete: einen löchrigen Rucksack, in dem eine schwarze Banane vor sich hin faulte, einen Schirm mit kaputtem Gestell, eine verwelkte Rose, an der nur noch die Dornen kräftig waren sowie Handschellen und ein abgebrochenes Florett. Spiegel eines nicht mehr intakten Privat- und Vereinslebens, dachte sich der Finder.

Neugier umrankte wie Efeu seine Phantasie, als er sich einen Röntgenblick wünschend auf die anderen Schließfächer starrte, die seit Monaten und Jahren verschlossen waren. Als er an seine weggelaufene Katze dachte, nahm er bedächtig seine Kappe vom Kopf. Er hatte keine Zeit, sich weiter in seine Phantasie zu stürzen, denn Schlüsselgeklimper lenkte ihn ab. Und schon war das Gebäude abgeschlossen. Eine einsame Nacht ohne Bett inmitten von verschlossenen Fächern von Studierenden mit Doppelleben. Das hieß auch, Zeit zu haben und sich beim Aufbrechen nicht erwischen zu lassen.