„Christliche“ Nächstenliebe?

von Natalie Meyer

Meine persönliche Adventszeit beginnt spätestens im November. Da wird es als armer Student dann Zeit, für den nächsten Monat Geld zurück zu legen, um damit vorzugsweise ALLE GESCHENKE bezahlen zu können. Weiter geht’s am 2. Advent. An einem Wochenende müssen sämtliche Plätzchensorten zusammengepanscht werden. Schließlich will ich jedem, den ich kenne, eine kleine Aufmerksamkeit schenken. Meiner Familie, Bekannten und Freunden. Hierbei kann leider auch keine Backmischung oder ähnliches benutzt werden, die Kenner merken das nämlich sofort. Und weil meine Omas solche Kenner sind, brauch ich damit gar nicht erst anzufangen. Hinzu kommt, dass ich sogar Menschen, die ich auf den Tod nicht ausstehen kann, was von meinen Schweiß- und Nerven kostenden Keksen schenken muss. Oh ja, das ist die “christliche Nächstenliebe”.

Christliche Nächstenliebe ist es auch, die mich einmal im Jahr dazu bewegt, in die Kirche zu gehen. Die Nächstenliebe zu meinen Eltern. Sie denken immer noch, ich wäre eine gut-bürgerlich Gläubige. Wie oft hab ich schon mit ihnen über die Abgründe der Kirche geredet, dennoch beschwören wir zu jedem Weihnachtsfest erneut den Mythos einer streng evangelisch gläubigen Familie hoch. Halleluja, großer Gott wir loben dich.

Wenn dann endlich alle Geschenke besorgt sind, habe ich mein Budget weit überschritten. Schließlich gibt es auch hier wieder Druck: Wer will schon ein Geschenk zurück geben müssen? Hinzu kommt der unausgesprochene Gedanke des Beschenkten: Aha, “soo” gut kennst du mich also… Man könnte also daraus quasi eine eigene Sportart machen, eine Art Weihnachtstriathlon. Wer hat zuerst alle Plätzchen gebacken, alle Geschenke gekauft und auch noch alle damit zufrieden gestellt? Da ich ungern der Verlierer bei dieser Sportart sein möchte, lege ich mich jedes Jahr mächtig ins Zeug, für jeden das Passende zu finden. Ist auch eigentlich gar nicht so schwer, man muss nur ausnahmsweise mal zuhören, was das Umfeld so von sich gibt. Auf Verdacht und beste Absicht hin wird dann gekauft, koste es was es wolle.
Leider bin ich dennoch jedes Jahr diejenige, die so ziemlich alle Geschenke umtauschen muss. Zu groß, zu klein, falsche Farbe oder von Anfang an defekt, sind nur eine der vielen möglichen Ursachen. Und obwohl man weiß, dass es auf die Geste und nicht das Geschenk ankommt, kann sich kaum einer über ein falsch gekauftes Geschenk freuen. Es fällt also nicht nur schwer die Nächstenliebe zu verteilen – sie anzunehmen scheint auch nicht allzu leicht zu sein.

Weiter geht’s in der Adventszeit mit den Besuchen verschiedener Weihnachtsmärkte und dem Schmücken der Wohnung, um sich selbst, mehr oder weniger gezwungen, in feierliche Stimmung zu bringen. Juhu.
Proviteure dieser feierlichen Stimmung sind dann letzten Endes die Betreiber der Buden auf dem Weihnachtsmarkt und Väterchen Konsum. Man isst mehr als sonst, man trinkt mehr als sonst. Es gibt ja allen Grund dazu: Bald ist Weihnachten!
Das reicht als Rechtfertigung völlig aus. Die Konsum-Lust steigt bis ins Unerträgliche, wir werden mit Angeboten und Weihnachtsstimmung in Kaufhäusern so überschüttet, dass wir es selbst kaum noch aushalten. Herrlich.
Das eigentlich wirklich Schöne für mich an Weihnachten ist, dass endlich mal an Andere gedacht wird.
An Obdachlose, an Kinder jeden Landes, an Tiere, Geflüchtete und und und….
An Weihnachten blüht die Nächstenliebe so richtig auf, und die rund 500 Millionen Christen Europas fühlen sich wenigstens einmal im Jahr zugehörig zur Kirche. Und auch einmal im Jahr fühlt die Kirche sich der christlichen Nächstenliebe verpflichtet
So wird auch am Donnerstag unsere Pfarrerin ihre Predigt mit den Worten beenden:
“Und jetzt wollen wir all denen gedenken, die heute nicht Weihnachten feiern können. All die Menschen, die heute in Bereitschaft stehen..
Menschen in Not, die noch nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben und bitterlich frieren. Kinder, die Weihnachten ohne Eltern und ohne Geschenke erleben.
Gedenken wir ihnen allen und seien wir froh darüber, ein so schönes Weihnachtsfest feiern zu können.”
Das ist der Moment, in dem zahlreiche “Christen” – die meisten davon mehr Schein als sein, so wie ich – dann anfangen zu heulen und ich mich frage, warum es nicht mehr von dieser “christliche Nächstenliebe” im Alltag gibt.

Oder warum überhaupt die ganze Adventszeit vom Christentum so geprägt ist. Klar, es ist eigentlich offensichtlich. Antichristen und Atheististen argumentieren hingegen: Weihnachten war ursprünglich ein heidnisches Fest. Zweitens: Der historische Mensch “Jesus” wurde im Sommer und definitiv nicht am 24. Dezember geboren. Kultur ist Kultur, denke ich mir jedes Jahr. Es gehört dazu, an Weihnachten in die Kirche zu gehen – für mich zumindest.

Angesichts der zahlreichen Geflüchteten aus Syrien und anderen Ländern frage ich mich allerdings, ob wir dieses Jahr nicht ein wenig umdenken sollten. Letzte Woche war ich für die Siegener Lokalpresse bei einer Art Weihnachtsessen einer Tafel. Bedürftige Deutsche und bedürftige Flüchtlinge trafen hier aufeinander. Ein Pfarrer hielt eine Ansprache, die Flüchtlinge verstanden kein Wort. Auf deutsch wurde stolz erklärt, dass es Fleischalternativen für sie geben würde. Wieder kam kaum ein Wort rüber. Auch die deutsch-christliche Predigt, das Vater-Unser und die deutschen Weihnachtslieder ließen einfach keine Stimmung bei den syrischen Familien aufkommen. Komisch, da hat wohl die christliche Nächstenliebe nicht so ganz ihren Zweck erfüllt…