Das Siegener Literarische Quartett

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Peter Gendolla ist seit 1980 an der Universität Siegen tätig – abgesehen von einer kurzen Unterbrechung von 1993-1995. Er war Sprecher des sfb/Forschungskollegs „Medienumbrüche“ und langjähriger Leiter des Universi Verlags der Universität Siegen.

Seit Oktober 2015 hat das ZDF die bekannte Literatursendung „Das literarische Quartett“ neu aufgelegt. Grund genug, Herrn Prof. Dr. Peter Gendolla an der Uni Siegen einen Besuch abzustatten. Zusammen mit Studenten der Uni Siegen entwickelte er 2001 nämlich ein reales literarisches Quartett als Kartenspiel, dass 2015 neu aufgelegt wurde – das „Siegener Literarische Quartett“!

Literalisten: Herr Gendolla, wie kamen sie überhaupt auf die Idee, das literarische Quartett im Sinne des Wortes umzusetzen?

Peter Gendolla: Die Situation und der Zufall spielen eine Rolle: Der damalige Kollege Carsten Zelle, der heute an der Uni Bochum lehrt, hatte mit mir zusammen in den Einführungsveranstaltungen begonnen, Studenten danach zu fragen: Wo sind Sie mit Literatur bekannt geworden? Hat die Oma Ihnen vorgelesen? Das waren 10 bis 12 Fragen. Dadurch kam die Idee eine Umfrage bei den Lehrenden zu machen: Was sollen Studenten lesen? Also eine neuere Kanon-Bestimmung. Der Zufall wollte es, dass Marcel Reich-Ranicki zu dieser Zeit das literarische Quartett im Fernsehen machte, als auch wir gerade dabei waren, ein Untersuchung über Kanonbildung zu machen. Das war im Jahr 1999. Dann veröffentlichen Carsten Zelle und ich das Buch „Der Siegener literarische Kanon“ mit Diskussionen und Vorschlägen auf der Grundlage unserer Umfrage. Die Kanondebatte ist schließlich eine Ewige. Dann habe ich zwei Veranstaltungen gemacht, in denen wir mit den Studierenden das tatsächliche Quartett realisiert haben.

Literalisten: Wie sah die Umsetzung konkret aus in den Veranstaltungen?

Peter Gendolla: Wir haben die halbe Bibliothek ausgeräumt an Kunstbänden und Karikaturen. Die Studierenden haben irgendetwas von Zuhause mitgebracht, kopiert und diskutiert. Es waren 25 Teilnehmer und es hat Spaß gemacht. Die 48 Titel entstanden aus den Umfragen. Die Illustrationen, die uns am besten gefielen, haben wir passend nach Zitaten aus den jeweiligen Werken ausgewählt.

Literalisten: Und wie funktioniert das literarische Quartett? Andere Zitate sind mehr wert als andere, oder wie muss ich mir das vorstellen?

Peter Gendolla: Es funktioniert ganz im Sinne des Auto-Quartetts: Welches Auto ist am schnellsten, etc. Wir haben eine literarische Wertung vorgenommen: Was gilt als höchste Gattung? Seitr der Antike waren es das Drama, die Tragödie, die Lyrik, dann Prosa… Romane, nun ja, die waren fürs Volk, für die lesebegeisterten Köchinnen. Ab der Goethezeit gab es dann einen Umschlag der Gattungen. Etwa seit Goethes „Werther“ und dann im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde der Roman zur meistgelesenen Form. So sind die Regeln dieses Quartetts: Klassisch, nach der ursprünglichen Gattungshierarchie, oder man spielt modern, die Gegenwartsliteratur gilt mehr als die Antike oder das 18. Jahrhundert.

Literalisten: Ich habe es mit meinem Bekannten eigentlich immer so gespielt: Wer die meisten Zitate errät, der hat gewonnen.

Peter Gendolla: Das geht natürlich auch. Das Quartett soll ja auch ein Lehrmedium für die Studenten sein. Es war wohl das erfolgreichste Produkt des Universitätsverlages. Als eine Art didaktisches Mittel gehört es durchaus zur wissenschaftlichen Kommunikation der Universität. Die zweite Auflage war vergriffen, weshalb wir es jetzt im Jahr 2015 neu aufgelegt haben, dabei das Design ein wenig verändert. Während wir daran saßen kam die Nachricht vom ZDF: Das literarische Quartett wird wieder gesendet werden, bis heute bereits dreimal.

Literalisten: Jetzt interessiert mich aber mal, was Sie davon halten. In den Medien heißt es ja immer, man kann Reich-Ranicki nicht ersetzen und es sei nur ein billiger Abklatsch. Davon abgesehen finde ich persönlich es aber gut, dass es wieder eine literarische Sendung im ZDF gibt und finde, man sollte der neuen „Besetzung“ des Quartetts zumindest eine Chance geben. Wie sehen Sie das?

Peter Gendolla: Ich habe erst eine Ausgabe gesehen, da kann ich jetzt noch nicht viel darüber sagen. Es ist selbstredend, dass ein Marcel Reich-Ranicki mit seiner oft harschen Kritik nicht einfach ersetzt werden kann. Diesen Anspruch sollte das Format wirklich nicht haben. Darüber hinaus kann ich sagen, dass ich die erste Sendung durchaus interessant fand – wenn sie auch nicht ganz so unterhaltsam war wie das Original mit den Herren Reich-Ranicki und Karasek.

Literalisten: Zu guter Letzt: Zwei weibliche Literaturwissenschaftlerinnen der Uni Siegen haben quasi ein Gegenwerk zu dem Kanon verfasst. Unter dem Titel „(Ein) Kanon der Literatur“ erschien 2008 das Buch im Universi Verlag Siegen, enthalten waren ausschließlich Texte von Frauen. Sehen Sie darin eine Konkurrenz?

Peter Gendolla: Nein, schon allein aus dem Grund, dass meine eigene Frau daran beteiligt war. Ich fand es vielmehr erstaunlich, dass in unserem literarischen Quartett keine einzige Autorin vorkommt. Das lag an der damaligen Umfrage, da hatten auch unsere Kolleginnen häufiger für Kafka als für Ingeborg Bachmann gestimmt. Dabei spielen Frauen in der Weltliteratur eine wichtige Rolle. Deshalb ist es umso interessanter, dass dieses Werk ergänzend zum literarischen Kanon von Carsten Zelle und mir erschienen ist.

Literalisten: Das ist doch ein gutes Schlusswort. Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview führte Natalie Meyer.

Mehr Infos zum „Siegener Literarischen Quartett“ findet ihr unter:

http://www.universi.uni-siegen.de/katalog/sontiges/638686.html?lang=de