Die Frankfurter Buchmesse 2023 – Sechs entscheidende Fragen für einen künftigen Besuch

Von Michael Fassel

Dankbar aktiviere ich die App der Frankfurter Buchmesse. Sie springt mir beim Öffnen auf dem Display rot entgegen, rot wie die Teppiche, die in den Hallen ausgelegt sind, so dass sich Autor:innen, Journalist:innen und andere Repräsentant:innen des Literaturbetriebs auf angenehme Weise bedeutsam fühlen. Das wären sie zweifelsohne auch ohne roten Teppich, obgleich es während der Pandemie für diese Zunft etwas anders aussah. Dann kündigt die App das Gastland der Buchmesse 2024, Italien, an, obgleich das Gastland Slowenien sich gerade erst mt Slavoj Žižek warm gelaufen hat.

Slowenien aber hat mehr als seinen diesjährigen hochdotierten Philosophen Žižek (jüngst erschienen: Die Paradoxien der Mehrlust. Ein Leitfaden für die Nichtverwirrten. S. Fischer, Frankfurt am Main 2023) zu bieten, der bekanntlich im Schatten des Krieges in Israel mit seiner Eröffnungsrede die mediale Aufmerksamkeit auf sich zog. Während er sich am Mittwochnachmittag auf der gemeinsamen Bühne von ARD, ZDF und 3Sat im Forum – umgeben von Polizeischutz – erneut in Rage redete und nach dem Ende seiner Redezeit die Bühne widerwillig verlassen hatte, herrschte eine Etage höher buntes Treiben. Im Pavillon schlug das literarische Herz Sloweniens: Geschmackvolle Dekoration, kulinarische Versorgung mit knackigen Krainer Würstchen und eine Fülle von slowenischer Literatur, freilich ins Deutsche übersetzt. Man staunt über die kulturelle Vielfalt. Zugegeben, wir kennen doch neben Herrn Žižek eher das slowenische Mittelmeer mit alpiner Kulisse.

Zurück zur App, die ich gegen ein fast 70-seitiges PDF-Dokument eingetauscht habe, in dem alle Veranstaltungen von neun Uhr morgens bis zum späten Abend vermerkt sind. Doch wer scrollt schon durch 70 Seiten Programm? Gut, die Zeit, die sich die Hessische Landesbahn am 18. Oktober, am ersten Tag der Buchmesse, zwischen Siegen und Frankfurt genommen hat (angeblich ein Unfall bei Wetzlar, Tier oder Mensch sei auf den Schienen zu Schaden gekommen, die Informationspolitik der Bahn glänzte mal wieder mit ihrer Unwissenheit), hätte für zwei Mal 70 Seiten gereicht. Die App ist wesentlich handhaberer und rasch habe ich meinen Zeitplan erstellt. Bei aller Bescheidenheit: Mittlerweile bin ich ein Profi, wenn es um den Besuch dieser größten Buchmesse geht. Wichtig sind folgende Fragen:

Wen oder was möchte ich unbedingt sehen?
Wen oder was will ich auf jeden Fall nicht sehen?
Wessen Stimme möchte ich hören?
Wie viel Zeit will ich mir zum Flanieren lassen?
Wann und was möchte ich essen? Moment, möchte ich überhaupt essen?

Fragen also, die eine Antwort fordern. Spätestens auf der Zugfahrt nach Frankfurt sollte man sich entschieden habe. Sehenswert ist stets die kurzweilige „Druckfrisch“-Ausgabe des Literaturkritikers Denis Scheck. So unterhaltsam seine Verrisse von Fitzek-Romanen sind, so gewinnbringend sind seine Empfehlungen. Und auch wenn ich nicht mit all seinen fundierten Tipps einer Meinung bin, könnte ich ihm stundenlang lauschen. Gleiches gilt für die „Buchzeit“, eine literaturkritische Sendung, die vier Mal jährlich auf 3Sat ausgestrahlt und von dem smarten Gert Scobel moderiert wird. Mit den Kritikerinnen Barbara Vinken, Sandra Kegel und Katrin Schumacher diskutiert über vier literarische Neuerscheinungen. Auch hier sind durchaus sehr interessante Schätze zu finden. Nur durch diese Sendung bin ich auf den Roman „Übertretung“ von Louise Kennedy aufmerksam geworden, in dem der Irland-Konflikt thematisiert wird. Man kann diesen Text historisch lesen, es lassen sich aber auch viele Analogien zu heute ziehen. Und nicht zuletzt evoziert der Roman die unbequeme Frage: Hat Irland diesen Konflikt denn wirklich überwunden? Im Zuge der Brexit-Verhandlung und des Nordirland-Protokolls gab es zuletzt 2019 einen Autobombenanschlag in Londonderry, der an die Hoch-Zeit des Konfliktes erinnerte.

Wer gefühlt in keiner Diskussion über literarische Neuerscheinungen fehlen durfte: Daniel Kehlmanns „Lichtspiele“. Wobei: Das Lob, das Kehlmanns neuer Roman sowohl auf der Buchmesse als auch andernorten erhielt, wirkt etwas inflationär. Ist es wirklich der große literarische Wurf des Jahres?

Die große Bühne im Forum bot aber vieles mehr. Sei es Promi-Förster Peter Wohlleben, der über sein neues Buch „Wie schläft Wald?“ und damit auch über den Klimawandel sprach; sei es die Grande Dame der deutschen Gegenwartsliteratur, Monika Maron, die ihren neuen Roman „Das Haus“ vorstellte (nach Kontroversen um Marons Kritik an der Flüchtlinkspolitik Merkels erscheinen ihre Bücher nun im Verlag Hoffmann & Campe, nicht mehr beim Verlag S. Fischer); oder sei es der Grandseigneur Uwe Timm, der jüngst eine Autofiktion über sein Leben, „Alle meine Geister“, vorstellte.

Newcomer, wie der mit Deutschen Buchpreis 2023 ausgezeichnete Tonio Schachinger, der mit „Echtzeitalter“ bekamen natürlich ebenfalls eine Stimme. Darunter auch Charlotte Gneuß, die mit dem DDR-Roman „Gittersee“ reüssierte. Ungeachtet absurder Kritik, wie sie von Schriftsteller Ingo Schulze geäußert wurde, der eine verlagsinterne Mängelliste erstellte und einige Begrifflichkeiten aufspürte, die in der ehemaligen DDR nie genutzt wurden, erhielt Gneuß sowohl den Aspekte-Literaturpreis als auch den Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung.

All das bot die Frankfurter Buchmesse 2023. Es ist etwas anderes, Teile der Debatten und Diskurse live zu erleben bzw. Zeuge zu sein, wie Debatten wachsen, in welche Richtung sie führen. Und wer mein Fragenraster für künftige Buchmesse-Besuche wird mit einem Kopf voller Stimmen nach Hause fahren. Und wenn neben Lesungen, Interviews und Podiumsdiskussionen noch Zeit zum Flanieren bleibt, wird mit folgenden Fragen hadern: Mit welchem Buch soll ich anfangen? Für weniger entscheidungsfreudige Menschen empfehle ich alphabetisch vorzugehen.Also mit dem Vor- oder Nachnamen des/der Autor:in?