Die Literatur von heute wird in fünfzig Jahren keiner mehr lesen

von Theresa Müller

Der Schriftsteller Enno Stahl besuchte die Universität Siegen und stellte seinen Essayband „Diskurspogo“ vor. Darin kritisiert er die gegenwärtige Literatur mit ihren einseitigen Charakteren und Themen, und das nicht gerade zurückhaltend.

diskurspogo

Wie sieht die gegenwärtige Literatur in Deutschland aus? Was ist aus den Schriftstellern, den Verlegern, ja dem ganzen Literaturbetrieb geworden? Die Anzahl der vermarkteten Bücher steigt, doch die der großen Werken, wie wir sie von Thomas Mann oder Lew Tolstoi kennen, bleibt aus. Können wir von einem Verfall der Literatur sprechen, durch Massenmedien bedingt, dank der sich jeder Mensch Gehör verschaffen kann? Oder fördert der Fortschritt der Medien das politische Denken, die Auseinandersetzung mit dem Gegenwärtigen, das zur Integration und einer aufgeklärten Gesellschaft führt?

Am Mittwoch, den 7. Mai, sprach Enno Stahl, Schriftsteller und Journalist, an der Universität Siegen über seinen Essayband Diskurspogo, der 2013 im Verbrecherverlag erschienen ist und eben diese Thematik auseinanderpflückt. Im Januar diesen Jahres flammte, zugunsten der Popularität seines Werkes, wie er anmerkt, eine Debatte zu  dem Artikel Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!,  des Journalisten Florian Kessler, in der Zeit auf: die gegenwärtige Literaturdebatte.

Stahls These ist, dass gute Literatur bzw. gute Literaten, bis auf einzelne Adler am Himmel, verschwunden sind. Verschwunden hinter Privattüren einer unpolitischen Gemeinschaft, fernab der realen Welt. In Diskurspogo setzt er sich damit auseinander, wie realitätsnah die Literatur und wie angemessen ihre Darstellungen sind. In modernen Romanen begegnen wir Menschen, die am kulturellen Leben überproportional teilhaben, aber von Arbeit noch nichts gehört haben – warum auch, den Protagonisten geht es auch ohne gut. Im wahren Leben hat jeder zweite Deutsche Angst, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Sozialthemen wie Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, oder Drogen existieren nicht, könnte man denken, wenn man sich die Belletristik anschaut. Mit den Armen haben die Protagonisten nichts zu tun, die Protagonisten seien schweigsam und ängstlich. Die Literatur sei ignorant und die Gestalten existieren in den Romanen ohne soziale Grundierung. White Trash? Fehlanzeige! In der Literatur verschwindet das Individuum ein zweites Mal, behauptet Stahl, angelehnt an Foucaults Philosophie.

Romane wie Wenn wir sterben von Ernst-Wilhelm Händler oder Gold im Mund von Anne Weber, sind laut Stahl exemplarisch für an der Realität vorbeiziehende Bücher. Mit anderen Worten, es sind Romane, die in einem luftleeren Raum stehen. So handle zwar Wenn wir sterben von der Industriegesellschaft, doch wie es den Arbeitern und ihrer Gesundheit geht, bleibt unerwähnt. Stahl spricht von einem kapitalistischen Fatalismus. Kritische Prozesse werden ausgeblendet und eine emotionale Abstraktion findet statt, sagt Stahl. Und Anne Weber mag es vielleicht gut gemeint haben mit Gold im Mund, der als Großraumbüroroman betitelt werden kann. Denn Weber verschanzte sich wochenlang in einem Büro, um die Angestellten zu beobachten, ein Teil des Ganzen zu sein, um einen möglichst authentischen Roman zu schreiben. Doch was dabei rauskam, seien Assoziationsketten. Nach einem Arbeitsalltag sucht der Leser vergeblich, doch die Zimmerpflanze wird in all ihrer Schönheit beschrieben. Während sich sonst im Raum nur gesichtsloser Arbeiter finden, so Stahl. Der soziale Kontext fehlt, ein Text, der eine heile Welt zeigt. Das sei lächerlich und unglaubwürdig, ein wenig Quellenstudium und Sozialreportage hätte ihr gutgetan, meint Stahl.

Dem Literaturbetrieb fehlt jegliche Auseinandersetzung mit der Realität, dem Kaptalismus und Neoliberalismus. Eine Verarbeitung nahökonomischer Prozesse findet nicht statt. Stahl bringt es auf den Punkt: In einem scheinen sich die Schriftsteller und Verlage einig zu sein, zuviel Gesellschaftswahrheit schadet der Literatur. Es sind nicht nur die Leser, die in ihr verloren gehen, auch bei den Schreibenden findet eine Entfremdung von sich selbst statt. Sie seien besorgt um ihr Prestige und kommunizieren folglich mit anderen Literaten über ihre Erfolge statt über die soziale Ungerechtigkeit auf den Straßen. Dabei soll Literatur eine Widerspiegelung der wahren Gegebenheiten sein, bei der Erfolg nicht Ziel ihrer Arbeit ist.

Stahl hebt hervor, dass für ihn belletristisches Schreiben immer mit der Auseinandersetzung von theoretischen Texten gekoppelt sein muss. Ebenso muss Literatur den Minderpriviligierten eine Stimme verleihen. Literatur darf nicht länger das Sprachrohr einer bürgerlichen Mitte sein, vorbehalten für Schreibende aus wohlsituierten Verhältnissen. Stahl kritisiert, dass die Gesellschaft keinen Begriff von sich selbst hat. Die Augen der Masse dürfen nicht länger vor der bedrohlichen Wirklichkeit verschlossen bleiben. Um unsere Würde zu erhalten und den Weg zur freien Zivilgesellschaft zu finden, sei im Hinblick auf die Literatur eine Produktionsästhetik, also eine adäquate, kritische Wirklichkeitserfassung nötig. In der großen Literatur geht es um das Schildern und Deuten der Realität, die Darstellung von Milieus, der Geschehnisse auf den Straßen und in Unternehmen. Das Elend und seine sozialen Strukturen dürfen nicht ausgeblendet werden. Und Sinneswahrnehmungen müssen mehr eingebunden werden, ein Metarealismus. Der Film sei exemplarisch erheblich realitätsnäher geworden, beispielsweise findet in Sozialdramen eine Vermischung von Realität und Kunst statt, die gut sei. Das fehlt noch in der Literatur. Nur einzelne Ausnahmen wie Rainald Goetz, Jan Brandt oder Kathrin Röggla schreiben noch wahre Literatur. Nach Stahls Ansicht sind die Bücher von heute austauschbar, in 50 Jahren nicht einmal mehr kanonisierbar. Der Literatur sei aus dem Blick geraten, was sie eigentlich war.

Enno Stahl Diskurspogo, Verbrecher Verlag 2013

Florian Kessler Lassen Sie mich durch, ich bin Arztsohn!, in: Die Zeit vom 23.01.2014

Ernst-Wilhelm Händler Wenn wir sterben, Frankfurt Verlagsanstalt 2002

Anne Weber Gold im Mund, Suhrkamp Verlag 2005