von Susann Vogel
Am vergangenen Wochenende fand das europäische Literaturfestival „vielSeitig“ in Siegen statt. Das Programm hielt dem Namen alle Ehre. Susann Vogel reflektiert die Lesungen „All you can read“ und „Lesung statt Vorlesung“.
„Eine wahnsinnig dynamische Veranstaltung“ verspricht der Moderator Tilman Strasser und kitzelt in verbalen Umdrehungen „das große, flauschige Tier – das Publikum“, um es zum Klatschen zu animieren.
Ich mische mich unters Fell dieses Wundertieres und habe teil am All You Can Read Buffet, das die Studentinnen Theresa Müller, Christina Sabel und Julia Ollertz im Rahmen des vielSeitig Literaturfestivals im Wohnzimmer am Samstag aufgebaut haben. Geladen sind fünf Studierende „aus aller Welt“ – im Gepäck „Texte ihres Heimatlandes“.
Mit Thomas Marbach, Student des Faches Literatur, Kultur, Medien, beginnt die Wanderung: Als Begleiter gibt er den Reisewilligen ein Kinderbuch auf Russisch an die Hand. Eine Sprache, die ich als eine Welt von runden Tönen empfinde. Die Geschichte greift das Struwwelpeter Motiv auf: Einem Jungen, der sich nicht gewaschen hat, laufen die Gegenstände davon. So flüchtet zum Beispiel der Teekessel vor ihm. Dann aber droht ihm „aller Schwämme Hauptmann“ – das Waschbecken – und ein Krokodil zwingt ihn in die Badezimmerfluten. Mitten im Wohnzimmer stehen ein glänzender Junge und eine flimmernde Eigenübersetzung Thomas Marbachs, vor der ich ehrlich meine Strickmütze ziehe.
Ein Singsang von „prägnanter Wucht“ – wie die Moderation kommentiert – ist der Anschlusstrip, angeführt von Yong Zhang in Mandarin: In einem Wort-Wort-Stop-Wort-Stop Rhythmus, der mich auf nicht gewohnte Art beruhigt, erklärt Yong Zhang die Wichtigkeit einer „unabhängigen und freien Wissenschaft“.
Als nachfolgender Reiseleiter ist Phuong Kieu, der Germanistik in Hanoi studierte, kurzfristig eingesprungen. Er wandert mit vietnamesischen „Gedichten der Liebe“ weiter durch das Dickicht der Zeichen. Der Klang von Phuong Kieus Rezitation gleicht für mich einem Hin, das gegen die Wände prallt, um von einem Her aufgefangen zu werden. Ein Tischtennis der Verse. Berichtet wird von einem Spaziergang eines schüchternen Mannes und einer schönen Frau – davon, dass der Mann Kraft aus der ihn umgebenden Natur bezieht und er es wagt, seinen Schwarm anzusprechen. Der Dialog mit dem Grünen ist Phuong Kieu nicht fremd – die Natur „motiviert“ ihn, sie stimmt ihn fröhlich. Er betont ebenso, wie wichtig es ihm ist, ein Gedicht mit dem notwendigen Impetus vorzutragen – eine Vertonung dessen, was im Text liegt und durch den Vortrag nach außen gekehrt wird.
I am not a tale to tell / I am not a song to sing […] I am the common pain […] the trees talk to the forest […] – in englischer Übersetzung zeichnet die Iranerin Maryam Araghi Spuren der Verse nach, die sie zuvor auf Persisch einladend auslegte und malt mir in ihrer Sprache Kreise in die Luft, gefüllt mit d’s und b’s. Der Text ihrer Wahl stammt aus einem lyrischen Sammelband, der über „politics, love and such things“ erzählt. Auf Nachfrage des Moderators reflektiert die Wirtschaftsstudentin, dass die Mehrzahl der ihr bekannten Ökonomen ihre Begeisterung für Gedichte kaum teilt.
Ich seufze theatralisch, feixe und hänge den luftigen Kreisen nach …
Der Schlagzeuger Ibo Cayetano stammt aus Belize und stellt ein Kinderbuch in englischer Sprache vor, das von einem traditionellen Maskentanz berichtet. Er hebt die Besonderheit hervor, dass sich bei diesem Tanz der Rhythmusgeber, der Haupttrommler, nach der Bewegung, dem Tanzenden, richtet. Das Kinderbuch ist in Zusammenarbeit mit seiner Mutter und seiner Schwester entstanden, wobei die Schwester das Layout im Rahmen ihrer Masterarbeit entwarf. Ibo Cayetanos Vortrag, buchstäblich untermalt von den Illustrationen in der Erzählung, schließt somit den Nachmittag und die Wörterwanderung in einer Sprache, die mir mehr als vertraut ist und in der ich mich quasi alternativ zu Hause fühle: This time I have no fear of the dark forest and the spooky surrounding […]
Bereitwillig lässt sich das „große, flauschige Tier“ kitzeln – das Publikum klatscht und ich ziehe weiter ins New Orleans zur Lesung statt Vorlesung.
Jede Nacht um halb eins, wenn das Fernseh‘n rauscht, leg ich mich aufs Bett und mal mir aus, wie es wäre, wenn ich nicht der wäre, der ich bin, sondern Kanzler, Kaiser, König oder Königin […] Ich wär Rio der Erste, Sissi die Zweite […]
Chantal Kleinschmidt, die Moderatorin, kämpft gegen die noch nicht abgedrehte Hintergrundmusik, gegen den mutigen „König von Deutschland“. Ich grinse breit und bestelle einen Schoppen Rotwein, trocken, nicht lieblich. Rio Reiser verstummt.
Dem Format Lesung statt Vorlesung, für das diesjährige vielSeitig organisiert von Lisa Muckelberg, Katharina Alber und Marielies Tornier, liegt die Idee zu Grunde, sich von Dozierenden abseits von Seminarraum und Hörsaal im wahrsten Sinne des Wortes vorlesen zu lassen. Ich fordere die jeweilige Lieblingsliteratur, die Literatur, die bewegt und begleitet. Das ist meine Erwartung an diesen Abend. Gerade im unmittelbaren Vergleich zum Besuch des All You Can Read Buffets der Studenten.
Herr Prof. Dr. Peter Matussek von den Medienwissenschaften macht sich zum Auftakt stark für den argentinischen Autoren Jorge Luis Borges, seinen Text „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“ im Besonderen, seine Kurzprosa im Allgemeinen und die Kunst des Magischen Realismus.
Das ist ja das Leben selbst! – Frau Dr. Maribel Cedeño aus der Romanistik, mit der Begeisterung für Vampire, die „wirklich böse“ sind, liest Edgar Allan Poes „Das ovale Porträt“. Die Moderation zitiert die Dozentin mit dem Satz – „Lesen ist eine ernste Angelegenheit.“ Frau Cedeño nickt – „Und Poe ebenso.“ Für sie machen die skurrilen Begebenheiten, verortet in Alltagsräumen, eben gerade den Poe’schen Grusel aus. Sinngemäß heißt es zum Ende der Erzählung über den Protagonisten: Er drehte sich um, nach der Geliebten zu schauen. Sie war – Frau Cedeño hält hier inne, wendet sich mit herausforderndem Blick dem Publikum zu – im vorsichtigen Chor beenden aufmerksame Zuhörer ihre Rezitation – tot …
Der Wirtschaftswissenschaftler Herr Dr. Marco Rehm tritt in Begleitung der „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“ hinter das Rednerpult. Die Frage seitens der Moderation – „Warum denn gerade Thomas Mann?“ – führt zur mich erheiternden Gegenfrage – „Warum nicht?“ – und zu dem mich ernüchternden Zusatz: „Der ist ein super Autor, der super schreibt.“
Aufgrund von offenen Rechtefragen mit dem Verlag fällt die Lesung der Medienwissenschaftlerin Frau Dr. Judith Ackermannaus, stattdessen springt die Moderation mit einem eigenen Text ein – Chantal Kleinschmidt liest „Lost Paradise – Emma oder das Leben“. „Eine gute Sache“ findet sie die Schreibwerkstatt an der Universität Siegen, in der „Lost Paradise“ entstand. Dann – zur Vorbereitung – zieht Frau Kleinschmidt ihre Schuhe aus und kommentiert: „Denn mit Schuhen kann ich nicht lesen“. Mir leuchtet die Darstellung eines solchen Zusammenhanges strahlend ein! In Form eines anekdotischen Kreisschlusses – vor Augen habe ich mein Bild vom barfuß auftretenden Rio Reiser, der sich, seine Mucke und die Menschen erhebend geerdet hat.
Ich versuche also eine Übertragung, bleibe aufmerksam – dann fallen meine Überlegungen trudelnd ins Rotweinglas. Eine dolle Wirkung bleibt aus – für mich. Keiner der Vorträge erdet mich. Und eben vor allem darin erkenne ich mein Problem mit der Lesung statt Vorlesung: In der Rezitation. Meinem Empfinden nach hat auf Seiten der Dozierenden keine (ausreichende) Vorbereitung auf die jeweilige Lesung stattgefunden – anders als bei den Studenten und ihrem mir mundenden literarischen Buffet. Es mangelt, nach meinem Geschmack, an Übung, am Gespür für die Länge eines Leseausschnittes, an Betonung, an eben jenem individuellen Impetus, nach dem Text als Medium verlangt.
Wie es auf der Bühne denn so war, für ihn als einen Vorlesenden, will Chantal Kleinschmidt von Herrn Dr. Marco Rehm im Anschluss an seinen Auftritt wissen – „Viel anstrengender als gedacht!“ – „Lautes Vorlesen ist etwas ganz anderes als für sich zu lesen!“ …
Seine ehrliche Reflexion lässt mich schmunzeln.