von Michael Fassel
Ein Eindruck einer wiederbelebten Buchmesse
Ein dunkler, nebliger Herbstmorgen, die Scheiben der Hessischen Landesbahn sind beschlagen, die Fahrgäste blättern schweigend in ihren Tageszeitungen. Der Kulturteil scheint in diesen Tagen sehr anziehend zu sein. Das Feuilleton versucht der Short List des Deutschen Buchpreises gerecht zu werden. Vielleicht sind die müden, aber immerhin lesenden Menschen ja auch unterwegs zum weltweit größten Umschlagplatz für Verlage, Kultur- und Literaturschaffende.
Nach gut anderthalb Stunden Zugfahrt wandelt sich das Bild: Stimmengewirr, Gespräche, Interviews, miefige Luft und tausende Menschen wirbeln um einen herum. Alles höchst vertraut! Die 74. Frankfurter Buchmesse endlich wieder in Vollpräsenz, schnell vergessen sind die verlorenen Jahre 2020 und 2021. Zugegeben, ich habe das Treiben in den Messehallen tatsächlich in den vergangenen zwei Jahren vermisst. Als Buchliebhaber frohlockt man auf dem Jahrmarkt der Literatur, auch wenn es anstrengend ist, von einer Lesung zum nächsten Interview zu laufen und ständig seinen eigens individuell erstellten Stunden- und Lageplan sowie die Prioritätenliste zu studieren, um sich zu überlegen, was man sich anschauen sollte und könnte.
Die herbstliche Messe sollte ohne Vorbereitung nicht besucht werden, sonst droht ein Irrlaufen mit dem Ergebnis, alles und nichts gesehen zu haben. Wer zum ersten Mal auf dieses Event fährt, sollte von Anfang an den Mut zur Lücke haben. Hilfreiche Frage: Was möchte ich auf keinen Fall sehen? Bei 4.000 Ausstellungsständen dürfte, ja sollte die Antwort entsprechend ausfallen. Am Ende des Tages dröhnt einem auf der Rückfahrt in der Hessischen Landesbahn der Kopf. Aber auf wohltuende Weise klingen die Stimmen langsam ab. Zurück bleiben die schönsten und wichtigsten Momente des Tages. Selbst wenn es nur Schnipsel oder – mit Freud gesprochen – Tagesreste sind, die einem spätestens beim nächtlichen Träumen heimsuchen.
Dass die Menschen nach zwei Jahren Abstinenz (die Hybridform des Jahres 2021 zähle ich nicht mit, denn ich will Autor*innen und Aussteller*innen ohne Maske sehen können) wieder so zahlreich zur Frankfurter Buchmesse strömen und sich – nicht nur – für die literarischen Neuerscheinungen begeistern, ist ein sehr gutes Zeichen in diesen Zeiten. Und vor allem erfreulich ist, dass kleine Verlage Aufmerksamkeit bekommen, gerade weil die Leipziger Buchmesse zwei Mal in Folge abgesagt worden ist – selbst wenn die bekannten Verlage ihre Größe in Umfang ihres Messestandes zum Ausdruck bringen und mit bekannten Gesichtern der deutschsprachigen Literaturszene aufwarten.
Für Interessierte der spanischsprachigen Literatur ist die Buchmesse 2022 womöglich Pflichtprogramm, denn als Ehrengast repräsentiert Spanien seine eigene Literatur. Wie immer beeindruckend die Gestaltung der Ehrengast-Pavillon. Mit verspielt-kreativem Charme haben die Architekten ENORME, den Interaktionsdesignern Vitamin und den Grafik-Designern TwoPoints.Net. Überdimensionale Textfragmente werden an die Wände projiziert. Diese Installation wird dem Motte „Sprühende Kreativität“ durchaus mehr als gerecht. Man fühlt sich, als bewege man sich in einem Buch. Wer Spanisch beherrscht, kann auch den zahlreichen Gesprächen und Lesungen spanischsprachiger Autor*innen folgen.
Die spanische Literaturlandschaft hat mehr zu bieten als den allseits bekannten Don Quijote von Cervantes. Lästige Schullektüre für die einen, für die anderen ein kanonisierter Klassiker, aktuell beworben bei der Penguin Random House Verlagsgruppe. Der gleiche Verlag vermarktet aber auch die Neuerscheinungen aus Spanien, auf die ich ohne die Buchmesse nicht aufmerksam geworden wäre. Da wäre etwa der vielversprechende Roman Tage ohne Cecilia von Antonio Munoz Molina. Der Autor war Redner bei der Eröffnung der Frankfurter Buchmesse und gehört zu den wichtigsten spanischen zeitgenössischen Schriftsteller*innen.
Der Blick geht aber nicht nur zur iberischen Halbinsel, sondern auch gen Osten, in die Ukraine, die von prominenter Seite durch den Schriftsteller und diesjährigen Preisträger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels Serhij Schadan repräsentiert wird. Aktionskünstler*innen machen auf den Krieg in der Ukraine aufmerksam, andere Autor*innen versuchen mit Worten dem aktuellen Zeitgeschehen zu begegnen. Und auf der Frankfurter Buchmesse finden sie Gehör, ihre Stimmen bekommen Gewicht. Zumindest erfreulich ist die Bilanz der diesjährigen Buchmesse, die mit etwa 180.000 Besucher*innen die Erwartungen übertroffen hat. Verglichen mit dem vorpandemischen Niveau ist noch Luft nach oben. Das aber schafft Frankfurt, kein Zweifel. Schauen wir erst einmal im April nach Leipzig und sehen, wie die Finanzspritze von einer Millionen Euro des Bundes die dortige Buchmesse gedeihen lässt.