Kapitel 4
von Johannes Herbst
Sie konnte nicht lange liegen bleiben. Ein leichtes Herzrasen überfiel sie immer wieder und auch ein ununterbrochener Schwindel zog ihr durch den Kopf, wenn sie ihre Augen schloss. Sie schwang die Decke zur Seite und setzte sich auf die Bettkante, wo sie erneut einen heftigen Anflug der inneren Disbalance auszuhalten versuchte. Ihr Körper schien unter Hochdruck zu arbeiten, während sich ihr Geist unter einem Schleier der Schlappheit versteckte. Sie stapfte ins Bad und konnte auf dem Weg die Doppelung ihres Sichtfelds wieder vereinfachen. Gegen das Waschbecken stützend beäugte sie sich im Spiegel. Sie war wohl unabgeschminkt ins Bett gestiegen. Das passierte ihr nur selten. Die rechte Hand nahm sie vom Waschbeckenrand, steckte sie sich in die Vorderseite ihres Tangas und rieb einmal kräftig. Dann hielt sie sich ihre Finger unter die Nase und nahm einen tiefen Zug. Sie roch ungevögelt. Das beruhigte sie ein wenig. Den Wasserhahn ließ sie lauwarm anlaufen und rieb sich fast das ganze Päckchen des hoteleigenen Duschgels aufschäumend ins Gesicht. Mit dem Weiß spülten sich auch die schwarzen Schlieren aus ihrem Gesicht. Nach mehreren Würfen klaren Wassers, fühlte sie sich halbwegs frisch, auch wenn sich ihr Körper immer noch fremd anfühlte. Vielleicht würde ein kleiner Ausflug aufs Oberdeck helfen. Aus ihrem dreitaschigen Kulturbeutel, den sie an die Gitterheizung im Bad gehängt hatte, holte sie ihre Wimperntusche und die Dose Rouge nach draußen. Das sollte heute langen. Bereits im Kopf hatte sie sich eines ihrer „Gammel-Outfits“ – wie sie es nannte – zurecht kombiniert und kramte dann Leggins und T-Shirt aus ihrem Koffer. Die Haare hatte sie sich schon vor dem Schminken zu einem Dutt aufgesteckt. Laptop und Handy nahm sie mit nach draußen. Zum einen wollte sie ihre Schwester anrufen, die ihr die Reise geschenkt hatte. Sie ist gerade mit ihrem Mann von Kapstadt nach Sao Paolo gezogen und hatte Maria vor lauter Freude eine Kreuzfahrt aufgedrängt. Auf dem Laptop wollte sie noch einmal nach ihrem Klavierspieler suchen und vielleicht könnte sie auch den erneuten Kontakt erstmal auf digitaler Ebene herstellen, er musste doch irgendwo ein Profil haben. Das belauschte Telefonat ihres Nachbarn hatte Maria schon wieder ganz vergessen.
Das Wetter war wie versprochen klar und die Sonne strahlte auf die Balken des Oberdecks. Allerdings stimmten auch die vorhergesagt 70 Prozent Luftfeuchtigkeit und ihr vernebelter Zustand setzte sich weiter fest. Mit einer großen Orangensaftschorle und zwei bereits geschluckten Diazepam hatte sie es sich auf einer im Schatten positionierten Liege bequem gemacht und auf ihren Oberschenkeln stand der aufgeklappte Laptop. Zwischen Haut und dem sich erwärmenden Lithium Akkus ihres MacBook Airs hatte sie ein Handtuch geklemmt. Ihre Schwester hatte sie bereits dreimal erfolglos probiert zu erreichen. Maria machte sich noch keine Sorgen, da sie nicht genau wusste, wieviel Uhr es in Sao Paolo war und es auch nicht herausfinden wollte, aber eigentlich hatte ihre Schwester das Handy immer an der Frau. Gerade als sie in die Sucheingabe die Worte „Neo Eichbach Klavier“ tippte, nahm sie das aufgesetzte Räuspern vor sich war. Ein Ehepaar stand händchenhaltend vor ihr. Den Mann schätzte sie auf Anfang fünfzig, die Frau schien um mindestens zehn Jahre jünger. Er hatte bereits angegraute Haare, sein ledrig brauner Körper zeugte allerdings von sportlicher Betätigung. Die Brüste der Frau quollen aus dem Bikini-Oberteil, dessen Träger hinter ihrem Hals zusammengeknotet waren. Um die Hüften hatte sie sich ein gebatiktes Tuch gehängt, das ihr bis zu den Knöcheln reichte, die gefesselt waren von den Schnüren ihrer Sandalen. Der Mann trug eine boxershortlange Badehose in einem hellen Blauton. Links unten am Hosenbein war das grüne LaCoste-Krokodil eingestickt.
„Entschuldigen Sie, aber wir müssen Sie einfach fragen?“
„Sind sie Marie Herchenröther?“
Sie hatte sich so an ihren Nickname „Maria Valderama“ gewöhnt, dass sie nur ungern auf ihren echten Namen reagierte.
„Ja, schon.“
„Guten Tag, mein Name ist Jörg Wienkaamp und das ist meine Frau Sarah. Wir sind uns schon einmal begegnet.“
„Hallo. Also tut mir leid, aber ich kann mich zumindest nicht mehr daran erinnern.“
„Das ist auch schon ein bisschen Herr. Ihr Vater hatte uns vor ein paar Wochen zu einer seiner Charity-Veranstaltungen eingeladen und sie spielten so herrlich auf dem Klavier?“
Die Klavierspielerei, die sie ihrer Mutter zu Liebe begonnen hatte, hatte sie bereits vor acht Jahren aufgegeben. Ihren Vater hatte sie schon über ein Jahr nicht mehr gesehen. Sie telefonierten gelegentlich und ein monatlicher Kontakt war durch die regelmäßigen Überweisungen auf ihr Konto gesichert. Aber an dieses Event konnte sie sich nicht erinnern.
„Da müssen Sie mich verwechseln. Mein Vater gibt gerne diese Veranstaltungen, aber dort war ich schon länger nicht mehr gewesen.“
„Aber sie haben doch mit uns am Tisch gesessen und von ihrem Blog berichtet und dass sie eine Reise machen wollten. Wir wussten ja nicht, dass sie auf dem gleichen Schiff sind wie wir“, insistierte die Frau, die ein versöhnliches Lächeln an ihren letzten Satz hängte.
„Wir laden Sie gerne später auf einen Champagner ein.“
„Also ich glaube heute bin ich eher …“
„Keine Widerrede. Wir holen Sie um sieben an ihrem Zimmer ab. Au Revoir.“
„Aber sie haben doch …“
Ohne auf Maria einzugehen, winkte die Frau ihr kurz zu und die beiden liefen Richtung Kabinen. Irgendwo im Hintergrund spielte Musik. „We slide down the surface oft hings“.