von Michael Fassel
Ein geschmeidiges Gesicht, geformt von einem Bildhauer vor einigen hundert Jahren, verfeinert im klaren Licht der warmen Abendsonne. Eine liebenswerte Statue, inmitten einer Flut aus Silber. Sie wohnt in einem großen Schloss, wo sie die Steine sprechen und das Kellergewölbe singen hören kann. Gesänge aus einer fernen Vergangenheit, dumpf, aber freundlich. Silbernes Wasser fließt aus dem Hahn und benetzt seine Haut, seine Kleidung, alles.
Sophie reibt sich ihre Nase, als die tief stehende Nachmittagssonne sie kitzelt. Ihre fantastischen Gedanken verschwinden, sie versucht sie wieder zurückzuholen, indem sie weiterhin auf den bewegungslosen Mann starrt. Die Strahlen schimmern auf seiner silbernen Haut, es scheint, als würden sanfte Wellen seine Miene in Bewegung setzen. Sophie beobachtet sein Gesicht, sekundenlang, minutenlang, sieht ein Blinzeln und ein Lächeln, das der vorbeilaufenden Menge an Menschen entgehen muss. Die meisten ignorieren ihn, was Sophie nicht verstehen kann.
Die ungeduldig ziehende Hand ihrer Mutter zerrt sie in den nächsten Spielzeugladen. Sophie wühlt dort gelangweilt in einer Box mit Plüschtieren herum, die sie nicht süß, sondern gruselig findet. Erst vor zwei Wochen hat sie ein neues Spiel geschenkt bekommen, das heute unberührt unter ihrem Bett liegt. Als ihre Mutter für einen Augenblick zwischen den hohen Regalen verschwindet, rennt sie aus dem Geschäft. Mit kleinen, aber zügigen Schritten läuft sie zur der Stelle, wo eben noch der silberne Onkel gewesen ist. Ein paar Meter weiter sticht sein Erscheinungsbild aus der dunklen Menschenmasse heraus und läuft mit seinem Koffer Richtung S-Bahn. Sophie wird schneller, lässt sich von vollen Einkaufstaschen anrempeln. Das ist ihr egal, solange sie den silbernen Punkt im Gedränge nicht verliert.
An einem Kiosk an der Haltestelle kauft er sich ein Stück Pizza und eine Dose Bier. Sophie legt ihren Kopf schief, runzelt ihre Stirn. Als sie ihm näher kommt, traut sie sich nicht, ihn anzusprechen. Er ist zu beschäftigt, seine Pizza festzuhalten und gleichzeitig die Dose aufzubekommen. Die erste Scheibe Schinken fällt auf seinen silbernen Stiefel, die Tomatensauce tropft behäbig nach. Dann zischt es und klatscht es. Die Büchse ist offen, die Pizza liegt auf dem Boden. Zwei Tauben haben sich bereits genähert und umkreisen das dampfende Dreieck vorsichtig, als wäre es ein kleines Raubtier. Der Blechmann leckt den Schaum von seiner Hand und schießt das Pizzastück auf die Schienen, die zwei Tauben fliegen hinterher. Sophie zittert, sei es wegen der Kälte, die mit der Dämmerung aufzieht oder wegen der zornigen Statue. Ein Hupen lässt eine Taube auffliegen, die Bahn fährt ein. Wieder lässt sich Sophie zur Seite schubsen, schwere Taschen prallen gegen ihre Arme. Ungehindert folgt sie dem Silberling in die Bahn, wo er sich niederlässt. Seinen weißen Koffer legt er auf seinen Schoß und nutzt ihn als Ablage für seine Bierdose. Er rülpst und kratzt sich an der Schläfe. Silbernes Glitzer rieselt auf den Boden und gibt seine hautfarbene Stirn frei. Sophie hält die Luft an. Draußen ist es dunkel, sie interessiert aber nicht, in welche Richtung sie fährt und ob ihre Mutter sie noch immer im Spielzeuggeschäft bei den Plüschtieren vermutet. Weitere Menschen verlassen an den nächsten Haltestellen das Abteil, es wird ruhig. Sophie beobachtet die restlichen Fahrgäste. Ein junger Mann mit einer Plastiktüte voller Pfandflaschen, der die trinkende Statue nicht aus dem Blick lässt. Und eine alte Frau an der Tür, in der rechten Hand ihren Krückstock haltend, ihre linke die Haltestange umklammernd.
Der silberne Onkel trinkt seine Dose aus, zerquetscht sie vor den Augen des Pfandsammlers unter seinem Stiefel. Als die Bahn hält, tritt er gegen die Krücke der Oma, die ihr Gleichgewicht verliert. Grinsend blickt er Sophie an, bevor er mit einem großen Schritt in die Dunkelheit tritt.
Kein Schloss in Sicht, keine singenden Gewölbe, kein liebenswerter Silberling aus der Vergangenheit, ins Leben gerufen von einem Bildhauer. Ihr kommen Tränen, als sie das entstellte Gesicht mit den hautfarbenen Punkten unter dem glitzernden Silber im fahlen S-Bahn-Licht sieht, das sie niemals vergessen wird.