Grenzen

– von Marius Albers

Wenn es um Grenzen geht, dann sind die Deutschen sehr akkurat. Gerade in diesen Zeiten wird das wieder besonders deutlich, das merke ich auch bei meinem Weg durch die verschneiten Straßen. Der Bürgersteig erinnert dabei streckenweise an einen lausig geplanten Zebrastreifen: Dunkles, feuchtes Pflaster wechselt sich in unregelmäßigen Abständen mit weißem, zertrampeltem Schnee ab. Doch eins fällt auf: Die weißen Grenzen sind erstaunlich gerade. Wie an der Schnur gezogen, mit großer fachmännischer Präzision beendet man den erforderlichen Räumdienst an der eigenen Außengrenze. Hausaufgabe erledigt. Doch wohin mit den anfallenden Massen? Am besten schaufelt man sie beim Nachbarn auf die Wiese, soll der zusehen, was er damit macht. Ich bin gespannt, wann die ersten Grenzschützer mit der Schneeschaufel bewaffnet entlang der Schneekante patrouillieren und jede neue Schneeflocke wieder abschieben.

Wenn man dann mal den eigenen, fest eingegrenzten Bereich verlassen möchte, erwartet man natürlich, dass überall jenseits der Grenzen der Weg mit der gleichen Akkuratesse bereitet ist. Alles soll sein wie zu Hause, reibungslos, ohne notwendige Umstellung, bitte bloß keine Umstände! Der Schnee ist nicht geschoben? Der Nachbar hat seine Hausaufgaben nicht gemacht!

Für die Gründe interessiert man sich hingegen weniger. Vielleicht wird der Nachbar ja bald zum hochdekorierten Kriegsheld, der sich gerade darauf vorbereitet, unsere Freiheit am Hindukusch oder in Syrien zu verteidigen und daher keine Zeit für profanes Schneescheiben hat? Oder vielleicht ist der Nachbar an dunklen Wintermorgen damit beschäftigt, fremdenfeindliche Hetzflyer gegen die ganzen Flüchtlinge zu kopieren? Vielleicht steht das Haus nebenan auch leer, und nachdem es dort in den letzten Tagen gebrannt hat, wird auf absehbare Zeit auch niemand dort einziehen? Wer weiß das schon, was man sieht ist entweder ein blanker Bürgersteig oder eine gefährliche Rutschbahn.

Vielleicht sollten wir uns weit weniger mit der akribischen Pflege unserer Grenzen beschäftigen, als vielmehr mit dem, was rund um uns passiert – dies- und jenseits aller Grenzen – und dort unseren Beitrag leisten. Denn nur der Schnee wird im Frühling von allein verschwinden und die Grenzen auf den Bürgersteigen verwischen.