Im Dickicht der 65. Berlinale

von Michael Fassel

Wartelisten für Kinoplätze

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„Ich kann Sie auf die Warteliste setzen“, sagt die freundliche Kassiererin. „Dann sollten Sie spätestens um halb sieben im Foyer sein.“ Soll ich nun anderthalb Stunden im Haus der Berliner Festspiele auf die Premiere von Better Call Saul, dem Spin-Off der populären US-Serie Breaking Bad, warten, um eventuell noch ein kostenloses Ticket zu bekommen? Die Information, dass der Hauptdarsteller Bob Odenkirk auch im Kinosaal sitzt und nach der Vorführung Fragen des Publikums beantwortet, klingt verlockend. Doch ein Platz auf der Warteliste ist keine Garantie, wie sich herausstellt. Bin ich nun im LSF-Dschungel oder im Dickicht der Berlinale? Zum Glück Letzteres, denn im Gegensatz zum elektronischen Vorlesungsverzeichnis der Uni Siegen werden die Gäste der alljährlichen Berliner Filmfestspiele mit einem übersichtlichen Programm in Printform versorgt, können Inhaltsbeschreibungen lesen, ohne sich die Finger wund zu klicken.

Nach der Enttäuschung mit der Warteliste muss ich vorausschauender denken, Filme auswählen, die ich unbedingt sehen will. Ganz wichtig: die Uhr und über zwanzig in Berlin verstreute Lichtspielhäuser, an deren jeweiligen Tageskassen ich als Studierender die Tickets für den halben Preis besorgen kann, im Auge behalten, mir ein Beispiel an offensichtlich erfahrenen Berlinale-Gästen nehmen, die in der S-Bahn, im Bus oder im Eiscafé mit einem Textmarker im Programmheft ihren filmischen Stundenplan erstellen. Nicht einfach bei einer Auswahl von über 400 Filmen, die in verschiedenen Sektionen laufen.

Ein Blick in Taiwans Unterwelt

Da ich meinen ersten Tag auf der Berlinale nicht ohne einen Filmbesuch vergehen lassen möchte und  Appetit auf Arthouse-Kino habe, blättere ich im Programm und stelle fest, dass ich noch gut zwanzig Filme zur Auswahl habe. Nun wäge ich ab, ob ich mich in die S-Bahn setzen und zum Zoo

Palast fahren soll und dort womöglich erneut vor einem ausverkauften Kassenschalter stehen werde oder ob ich es am Potsdamer Platz im Cinestar versuchen soll. Um 22 Uhr erhalte ich an der dortigen Abendkasse eine Karte für den in der Panorama-Sektion laufenden taiwanesischen Film Thanatos, Drunk (Zui Sheng Meng Si) von Chang Tso-Chi. Er handelt von zwei Brüdern, die perspektivlos in den städtischen Trubel Taipehs gezogen werden. Eine Fülle von Beobachtungen aus Sicht der beiden Protagonisten taucht das Publikum in verrauchte Unterweltclubs, nächtliche Striplokale oder in die dunkle Vorratskammer der Mutter, in der zahlreiche Spirituosen griffbereit stehen. Es sind die Settings, die in diesem Film mehr über ihre Figuren aussagen als die Figuren selbst. Diese zeichnen sich eher durch wenig motivierte Handlungen aus, was an der puzzleartigen Story liegen mag, die eine Inhaltsbeschreibung schwierig macht. Jede neue Szene führt zu der Frage: Was wird hier eigentlich erzählt? Eine Question-and-Answer-Session, bekannt als „Q&A“, findet im Anschluss jedoch nicht statt. Chang Tso-Chi lässt sein Publikum mit diesen Bildern so verwirrt zurück, wie die Ameise, die als einsames Insekt leitmotivisch immer wieder auftaucht und ziellos über die Hand des Protagonisten krabbelt, ohne je ihr Ziel zu erreichen.

Die Leinwand als Smartphone-Bildschirm

Tag zwei: Ich sehne mich nach einer Story mit rotem Faden. Das Drama Life von Anton Corbijn klingt vielversprechend. Es porträtiert Leben des zum Zeitpunkt der Handlung noch unbekannten Schauspielers James Dean (gespielt von Dane DeHaan), der nach einem tödlichen Autounfall im Alter von 24 Jahren zu einem Jugendidol und Mythos einer ganzen Generation wurde. Da der Tageskartenverkauf bereits gegen acht Uhr morgens beginnt und Robert Pattinson, der im Film einen Fotografen spielt und den meisten als glitzernder und reißzahnloser Vampir bekannt ist, auch präsent sein soll, denke ich an die abschreckende Vorstellung von hartgesottenen Twilight-Fans, die womöglich seit dem Morgengrauen am roten Teppich warteten.

Den Tag gehe ich entspannt an, studiere das Programm und entscheide mich für den japanischen Jugendfilm im Haus der Kulturen der Welt. Dort begegne ich im Foyer einem jungen Mann, der bereits ein Ticket erworben hat, aber versetzt worden ist. Er will es mir schenken, doch ich kaufe es ihm für zwei Euro ab, die ich für die Kinder- und Jugendfilme aus der Sektion Generation ohnehin bezahlt hätte. So sitze ich um 20 Uhr entspannt in der Premiere von Wonderful World End, inszeniert von Daigo Matsui, der auf quirlig-schüchterne auf die Fragen des Publikums nach der Vorstellung eingeht. Der Film handelt von der 17-jährigen Shiori, die als „Gothic Lolita“ voller Begeisterung einen Blog errichtet und in Vlog-Chats über sich und die Nichtigkeiten ihres Lebens plaudert. Sie freundet sich mit der schüchternen 13-jährigen Ayumi an, die sie beständig verfolgt. Zwischen den beiden entwickelt sich eine so facettenreiche Beziehung, dass die Grenzen zwischen Freundschaft und Teenagerliebe verschwimmen, so wie die Trennung zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit aufgehoben wird. Medienkritik wird hier derart subtil und ohne erhobenen Zeigefinger verpackt, dass die Konstruktion einer virtuellen Identität auf den ersten Blick euphemistisch anmutet. Neben dem schüchternen Mädchen befinden sich auch  Nutzer in der Fangemeinde des Blogs, die Shiori  auffordern, sich auszuziehen. Mit solchen Typen weiß sie aber geschickt und auf humorvolle Weise umzugehen, wie die Chat-Kommentare auf ihrem Smartphone-Bildschirm zeigen, der zuweilen die ganze Leinwand einnimmt. Das Publikum wird in solchen Szenen vor eine visuelle Herausforderung gestellt: Da alle Filme der Berlinale in Originalsprache mit englischen Untertiteln vorgeführt werden, muss man bei diesem Film nicht nur die gesprochenen Dialoge lesen, sondern neben den blinkenden japanischen Schriftzeichen auch die Übersetzungen der eingeblendeten Chatkommentare erfassen. Diese Reizüberflutung spiegelt Shioris Hineinsteigern in ihre virtuelle Welt wider, die eher eine Bereicherung ihres Lebens darstellt, während die möglichen Gefahren im Netz meiner Ansicht nach insgesamt zu kurz kommen.

Die zwölf Jünger im Bauwagen

Mit dem Besuch des österreichischen Films Superwelt von Karl Markovics im Cubix am Alexanderplatz schließe ich meinen dritten Berlinale-Tag ab. Superwelt weiß sein Publikum gut zu unterhalten, obgleich nicht viel passiert: Gabi, Hausfrau und Kassiererin aus dem Burgenland, hört Gott, der weder im Film zu sehen noch zu hören, aber doch stets präsent ist, was nicht zuletzt durch eindrucksvolle Aufnahmen aus der Vogelperspektive unterstrichen wird. Nein, es hat sich kein missionarischer Parasit in die experimentell ausgerichtete Forum-Sektion geschummelt, der Regisseur zeigt vielmehr eine sozial-realistische Milieustudie über das ländlich geprägte österreichische Bürgertum, eine Welt mit rigiden Geschlechterrollen. Es sind die alltäglichen Unzulänglichkeiten, die die Hausfrau geradezu in den Wahnsinn treiben. So fragt ihr Ehemann, nachdem er ihr Abendessen verschmäht hat, warum sie zur Gymnastik geht und für wen sie auf ihre alten Tage noch abnehmen will. Da ist das Publikum hin- und hergerissen zwischen Lachen und Weinen. Neben den tragikomischen Szenen weiß Markovics gekonnt Situationskomik zu inszenieren: Als Gabi sinnsuchend durch sonnendurchflutete Felder streift, sieht sie einen Bauwagen, in dem zwölf Arbeiter gerade ihre Mittagspause machen. Unvermittelt fragt sie, ob sie einen Kaffee bekommen kann. Die Männer schauen sie an, bedienen sie und sagen nichts. Diese dialogfreie Szene lebt von den Blicken. Dass dies eindeutig ein Verweis auf das Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern ist, bestätigt Karl Markovics, früher eher als Schauspieler in Kommissar Rex oder dem oscar-prämierten Film Die Fälscher bekannt, nach der Vorstellung. Dies habe er allerdings so offensichtlich inszeniert, dass es eher ein Gag sei. Mehr als eine halbe Stunde nimmt sich der sympathische Regisseur Zeit für Fragen und Interpretationsansätzen eines durchweg begeisterten Publikums. Und mit einem ironischen Augenzwinkern fügt er hinzu: „Verschiedene Szenen habe ich selbst nicht verstanden.“

Glamouröse Märchenstunde

Drei Tage Berlinale liegen hinter mir und noch immer keinen Wettbewerbsfilm im großen verglasten Palast besucht, keinen Gang über den roten Teppich, wo sich Schauspielerinnen  in einem schulterfreien Kleid den mit Kameras und Blitzlicht bewaffneten Journalisten und Reportern präsentieren, minutenlang, mitten im Februar. Wenn man schon mal da ist, warum nicht einen Hauch Glamour schnuppern und die Wärme der vielen Heizstrahler vor dem Palasteingang spüren? Und warum nicht zum Abschluss einen Film mitnehmen, bei dem ich einfach nur gemütlich im Kinosessel versinken und die Bilder auf mich wirken lassen kann? Da ist die Weltpremiere von Cinderella genau richtig. Bekannt ist bereits im Vorfeld, dass Hollywoodgrößen wie etwa Cate Blanchett während der Vorführung anwesend sind. Obwohl die Tageskassen gegenüber dem Palast erst um 14 Uhr 30 öffnen, stehen  bereits um zwölf Uhr etwa zehn Personen vor dem verschlossenen Eingang. Da soll ich mich schon jetzt anstellen? Nein, nicht ohne mich vorher am Potsdamer Platz mit Hühnchen, Reis und Gemüse beim Inder zu stärken. Mit jedem zweiten Bissen fällt mein Blick auf die Uhr. Kaum ist der Teller leer, zücke ich mein Portemonnaie. Bezahlen, schnell das Colaglas leeren und gesättigt zurück zum Vorverkauf, wo die Schlange geringfügig gewachsen ist. Zwei ältere Damen vor mir strahlen, halten mit Sonnenbrillen ihr Gesicht in die nachmittägliche Februarsonne. Sie sind zuversichtlich, dass wir alle noch Tickets bekommen werden. Ihr Optimismus steckt mich an und nebenbei erfahre ich von einer gesprächigen Altberlinerin, wie wild die Stadt um 1968 war. Aber erst in diesem Jahr ist es ihr gelungen, zur Berlinale zu kommen. So unterhaltsam kann zweistündiges Warten für einen Kinofilm sein.

Obwohl der Film um 19 Uhr beginnen soll, gehen die Lichter im großen Kinosaal mit ausverkauften 1754 roten Sesseln erst gegen halb acht aus. Murmelnde Gespräche verstummen. Eine junge Moderatorin erscheint vor dem roten Vorhang, heißt uns willkommen und begrüßt Cate Blanchett, Helena Bonham Carter, Richard Madden, Lily James, Stellan Skarsgård sowie den Regisseur Kenneth Branagh und die Kostümdesignerin Sandy Powell, die zügig ihre zugewiesenen Plätze einnehmen, bevor der Film beginnt: Ein hübscher Prinz, der auf einem Pferd seiner Künftigen begegnet, eine gehässige Stiefmutter, beeindruckende Kostüme, ein buntes Feuerwerk über dem Palast des Königs und eine eindeutige Story, eben eine cineastische Märchenstunde von Disney.  Im Anschluss findet zwar nur eine kurze Fotosession mit den Filmschaffenden statt, aber kein „Q&A“. Feedback gibt es in Form von Applaus schon während des Films, etwa als Helena Bonham Carter als Greisin in einem dunklen Kapuzenmantel eingeführt wird. Als sie dann ihren kristallenen Zauberstab schwingt, dröhnt der immersive Dolby Atmos-Sound durch den Saal. Die vermeintlich alte Frau erscheint um Jahrzehnte gejüngert in einem weiß schimmernden Kleid als blonde Fee. Dieser Auftritt wird mit einem kräftigen Applaus honoriert, denn sie beweist erneut ihre Wandlungsfähigkeit, dürfte sie doch einem größeren Publikum aus den skurrilen Filmen von Tim Burton oder als Bellatrix Lestrange aus der Harry-Potter-Reihe bekannt sein. Die Filmschaffenden bekommen durch Klatschen und Jubelrufe während der Credits, dargestellt in goldschimmernden Lettern (wie sollte es im Märchen auch anders sein?), jedenfalls ihr Feedback und erleben dadurch die Reaktionen ihres Publikums live mit. Dieser Film und der Glamourfaktor sind wie ein großer Eisbecher mit den klassischen Sorten, garniert mit Himbeersauce und Schlagsahne, verziert mit bunten Smarties und dekoriert mit Eispalmen. Zum Glück gibt es in den benachbarten Arkaden am Potsdamer Platz ein gutes, aber völlig überteuertes Eiscafé, in dem ich mit anderen Berlinale-Besuchern den Abend ausklingen lasse.

Die Berlinale ist wahrlich kein Urlaub. Programmheft lesen, Filme auswählen, permanent abwägen, was sich lohnt und auf was man verzichten kann. Lageplan und S-Bahn-Netz studieren, pünktlich an der Kasse sein und ständig die Zeit im Kopf haben. Natürlich zwischendurch etwas essen. Trotzdem würde ich wieder hinfahren, alles besser organisieren und mir Wochen vorher das Programmheft anschauen, um nicht unnötigerweise auf der Warteliste zu stehen.