von Michael Fassel
Mit einer Angel nach den Stars werfen
Freitagnachmittag, am Potsdamer Platz. Warm eingepackte Journalisten, Autogrammjäger, die ihr Album an einer Angel befestigen. Autogrammjäger mit Angeln? Ich schaue genauer hin. Ja, da ist tatsächlich jemand mit einer Angel, der sein Album wie einen Köder daran befestigt, um es dann über die Fotografenmeute Richtung roten Teppich zu werfen. Schwarze Audis mit der Aufschrift „Berlinale Shuttle“ fahren vor, die Scheiben natürlich getönt, aber niemand steigt aus, jedenfalls nicht in der Zeit meiner Geduldsspanne. Ich will mich hier nicht länger aufhalten, da ich zum einen nicht weiß, ob und wer da gleich aussteigen wird. Zum anderen weiß ich, dass ich mich schleunigst um Tickets für abendliche Vorstellungen kümmern sollte.
Ab in die belebten Kaufhaus-Arkaden, ein kostenloses Programm holen und auf den schwarzen Ledersesseln bequem machen. Textmarker zücken und Filme einkreisen. Ich orientiere mich damit an den anderen Berlinale-Besuchern, die konzentriert durch das umfangreiche Programmheft blättern. Wollen die etwa den gleichen Film sehen? Ich schiele rüber. Entwarnung! Kein potenzieller Konkurrent, der vor mir das letzte Ticket wegschnappen könnte. Weltpremieren sollten es schon sein. Hohe Ansprüche! Aber wenn man ohnehin einmal da ist… Obwohl ich weiß, dass es schwierig wird, an Karten für Premieren zu kommen, bei denen in der Regel Regisseur und Hauptdarsteller anwesend sind, kreise ich mir ausschließlich solche Filme ein. Ein Ansturm am Kassenschalter ist zu erwarten, aber ich bleibe optimistisch.
Bedrückte Stimmung im Kinosaal
Freitagabend im Cinemaxx am Potsdamer Platz. Es gibt noch Tickets für Jonathan von Piotr J. Lewandowksi. Obwohl der Film erst nach 22:30 Uhr beginnt, sind die besten Plätze in der Mitte bereits besetzt. Das Filmdrama um einen unheilbar an Hautkrebs erkrankten Vater (André M. Hennicke), der von seinem Sohn (Jannis Niewöhner) gepflegt wird, war um diese Zeit schwere Kost. Das Setting auf einem Bauernhof im Wald liefert ungewöhnliche und tröstende Kamerabilder zum Atemholen. Anders, aber ebenso kunstvoll eingebaut, sind zwischen den Handlungssequenzen geschobenen Detailaufnahmen auf Spinnen, Heuschrecken oder Fliegen, die den Verfall des menschlichen Lebens widerspiegeln. Nach dem tragischen Höhepunkt am Ende, das trotz der morbiden Thematik auch etwas Lebensbejahendes hat, spürt man geradezu die Bedrückung im Kinosaal, die auch während der Fragerunde an Regisseur und Darsteller nicht bricht. Die wenigen Fragen, die aus dem Publikum kommen, sind so banal, dass ich sie sogar vergessen habe. Möglicherweise sind die Zuschauer auch um 1:00 Uhr nicht mehr fähig, eine filmästhetische Diskussion zu starten.
„Ich muss unbedingt Isabelle Huppert sehen!“
Samstagvormittag, Tagesplanung. Bereits im Vorfeld sind an die französische Filmpremiere L’avenir von Mia Hansen-Løve hohe Erwartungen gestellt, nicht zuletzt, weil Isabelle Huppert die Hauptrolle darin spielt. Lohnt sich der Griff nach dem französischen Stern? Oder gleich nach einem anderen Film umschauen, für den ich unter Garantie eine Karte bekommen würde? Das wäre Plan B. Mit rauchendem Kopf blättere ich im Programm, um einen Plan C und D zu erstellen… Die Tageskasse öffnet um 14:30 Uhr für alle Berlinale Palast-Vorführungen. Doch aus meinen Erfahrungen vom letzten Berlinale-Besuch wusste ich, dass man sich spätestens um 13:00 Uhr an die Schlange stellen sollte, immerhin standen bereits um diese Zeit etwa zwanzig Filmbegeisterte vor der noch verschlossenen Tür. Mittagessen fällt aus, ein Imbiss sollte genügen, sobald die Tickets gesichert sind – was aber noch ungewiss ist. Natürlich verlockt der Anblick zum gegenüberliegenden McCafé, aus dem Leute mit ihrem Kaffee to go strömen oder zum Stand mit lenkradgroßen Käsebrezeln um die Ecke. Ich kann meine Position nicht mehr verlassen, zu viele würden hinter mir aufrücken. Ein gelungener Abend fordert Opfer. Sympathische und kommunikative Menschen, die vor oder hinter mir in der Schlange stehen, machen das Warten in der Kälte angenehmer. „Willst du auch in L’avenir? Ich muss unbedingt Isabelle Huppert sehen!“, sagt die sympathische Frau mittleren Alters vor mir und reibt erwartungsfreudig ihre Hände.
15:00 Uhr, ich schaue zurück, um vergeblich das Ende der Schlange auszumachen. Die Huppert-Anhängerin kauft ein Ticket, ihre Augen funkeln und ich erwarte zur Abrundung noch einen kleinen Freudensprung. „Es gibt noch Karten“, verkündet sie strahlend ihre gute Nachricht und schon weiß ich, dass sich das Warten gelohnt hat. Zudem erwische ich die letzte Karte der ersten Reihe im Rang I und habe somit eine panoramahafte Balkonaussicht. Natürlich bleibt Isabelle Huppert aus dieser Perspektive klein und zierlich, dafür lebt sie auf der Leinwand zu ihrer vollen Größe auf. Facettenreich und mit starker Mimik changiert sie innerhalb der Geschichte zwischen einer engagierten Philosophielehrerin, geplagten Tochter einer klammerhaften alten Mutter und betrogenen Ehefrau. Trotz und gerade wegen des feinsinnig inszenierten Alltags kommt auch der Humor nicht zu kurz, etwa wenn sie sich unmittelbar nach der Trennung ihres Mannes darüber empört, dass er einige ihrer Bücher mitgenommen hat. Was hier an der Oberfläche als Witz funktioniert, ist zugleich eine Aussage über ihre Ehe. Für mich der beste Film, den ich dieses Jahr auf der Berlinale gesehen habe.
Wecker für Meryl Streep stellen
Sonntag, der Wecker klingelt vor acht, heute erfolgt der nächste Griff nach den Sternen. Diesmal ein Hollywood-Stern. Um 11:30 Uhr steht eine Talkrunde mit Meryl Streep an, die in diesem Jahr übrigens die Jury-Präsidenten der Berlinale ist, und der Vorverkauf soll um 10:30 Uhr beginnen. Im Hostel ist es still wie nie und ich komme mir fast komisch vor, so früh das Haus zu verlassen. Obwohl es nieselt und nur langsam heller wird, haben sich bereits etwa zwanzig Personen verschiedenen Alters vor dem Altbau versammelt. Die Vorderen sind ausgerüstet mit Thermokannen und Decken. Offenbar ist vielen bekannt, dass bereits ein großes Kontingent an Online-Tickets verkauft worden ist. Die Wartestunden vergehen schnell dank einer temperamentvollen älteren Dame vor mit in der Schlange, die mitteilungsfreudig erzählt, in welchen Filmen sie bereits war und dass sie einen Kinobesucher, der mit seinem Smartphone die Aufführung verbotenerweise aufzeichnen wollte, mit strengen Worten und bösem Blick in seine Schranken verwiesen hatte.
Die Pforten öffnen sich bereits vor zehn, im Foyer sammeln sich Besucher und Journalisten mit Presseausweis gleichermaßen. Die Scheiben beschlagen, die Luft wird dünner, der Optimismus schrumpft. Die Organisatoren an der Saaltür schauen auf die Masse, runzeln ihre Stirn, beginnen zu flüstern und wirken zunehmend überfordert. Als gefühlt hunderte Menschen mit vorverkauften Karten in den Saal strömen, beginnt für uns Wartende das große Zittern. „Vielleicht hilft es ja, wenn ich Lippenstift auftrage“, scherzt die Dame vor mir, als sie gesehen hat, dass der Kassierer ein junger Mann ist. Dieser musste aber den jungen Frauen, die zuerst am Schalter waren, mitteilen, dass es keine Tickets, sondern nur noch ein Nachrückverfahren mittels Warteliste gebe. „Dafür warte ich seit fünf Uhr hier!“, empört sich eine aus der Gruppe. In seiner Machtlosigkeit vergibt er 75 Warteplätze – mit dem Ergebnis, dass nur die ersten acht Plätze jene Tickets bekommen haben, dessen Besitzer wegen verspätetem Erscheinen kein Einlass mehr gewährt wird und da lassen sich die Kartenkontrolleure auf keine Diskussion ein.Davon gibt es nämlich auch einige. Während ich mit Nummer 24 noch im Gespräch mit einer jungen Frau vertieft bin, die mir ihre Fotos vom roten Teppich zeigt, wird der Ton im Foyer rauer, die Gesichter enttäuschter. „Der Kartenverkauf ist nicht transparent!“, hört man im Tumult. „Ekelhaft!“, beschimpft eine Frau einen Mann, der vor dem Eingang Karten für hundert Euro verhökert hat, obgleich das streng untersagt ist und die Tickets eigentlich elf Euro kosten. „Das hat mit Fairness nichts mehr zu tun!“ Zweifelsohne hat sie damit recht. Letztendlich haben die Nummern Eins bis Acht der Warteliste Glück gehabt. Mit der Nummer Neun in der Hand hätte ich mich geärgert.
Insgesamt war es ein interessanter Vormittag mit netten Bekanntschaften und kurzweiligen Unterhaltungen. Und für das gesparte Geld habe ich mir zum Trost ein Premium-Eis gegönnt und eine neue Lehre gezogen: Wer nach den Sternen greift, muss auch damit rechnen, zu fallen. Und müde stehe ich schon wieder an der nächsten Schlange, verdränge den Gedanken, dass ich innerhalb von zwei Tagen zehn Stunden wartend verbracht habe.