von Wiliam Mertens
Ohrenbetäubendes Piepsen, immer wieder die gleichen Geräusche prasseln auf mich ein, während ein kleines Kind völlig gefangen genommen von seinem Handyspiel ist, mehrere Passagiere den Vater vergeblich darum bitten, das Gerät leiser zu stellen und ich entnervt in der Bahn zum Flughafen sitze, auf dem Weg zur 69. Berlinale. Passender könnte mich die Bahnfahrt nicht auf meinen ersten Abend auf dem größten Publikumsfilmfestival der Welt einstimmen.
Auch im japanischen Jugendfilm We Are Little Zombies spielen Videospiele eine bedeutsame Rolle: Sie begleiten die Erfahrungen der jugendlichen Waisen Hikari, Ishi, Takemura und Ikuko, die eine Band gründen, zunächst ausgestattet mit lediglich einem E-Bass, einer Spielekonsole und einem Wok. Anstatt sich auf Grund der dramatischen Ausgangssituation in ein tristes, schweres Drama zu verwandeln, changiert der Ton des Eröffnungsfilms der Jugendfilmsektion Generation 14plus zwischen melancholisch, heiter und allem dazwischen und zitiert dabei viele verschiedene Genres. Diese Mixtur ist in eine einnehmende, teils sehr originell aufbereitete, surrealistische Videospielästhetik gekleidet, die stellenweise an Reizüberflutung grenzt. Dabei kann sich der Film jedoch nicht so recht entscheiden, was er insgesamt eigentlich sein will. Die unterschiedlichen Reaktionen darauf wurden im Anschluss an das Screening in einem sogenannten Q&A mit dem Regisseur Makoto Nagahisa deutlich, wobei Menschen aus dem Publikum ihre Eindrücke schilderten, die teils recht bedrückt zurückgelassen wurden, und Fragen an den Filmemacher stellten.
Deutlich stärker begeistert zeigten sich die Zuschauenden nach der Erstaufführung des US-amerikanischen Kinderfilms Driveways aus der Nachbarsektion Kplus. Andrew Ahn erzählt darin leise und dabei umso berührender von der Begegnung und wachsenden Freundschaft zwischen dem achtjährigen Cody (der deutlich ältere und erstaunlich reflektiert beim Q&A auf seine Rolle blickende Lucas Jaye) und seinem neuen Nachbarn Del (Brian Dennehy), als Cody und seine Mutter Kathy (Hong Chau) das Haus von Kathys verstorbener Schwester ausräumen. So erfahren wir gemeinsam mit den Figuren mehr voneinander, von den Ängsten und Wunden der Anderen, wobei letztlich auch nicht alle Fragen beantwortet werden (müssen). Dieser vielschichtige Film weist viele kleine intime Momente auf und dringt tief zu seinen Charakteren vor. Dabei lässt er das Publikum ehrlich, gleichzeitig aber ohne falsches Pathos oder Kitsch Anteil nehmen lässt. Er streift in den nur 83 Minuten Laufzeit, die gerne noch ein wenig länger hätte ausfallen können, einige Themen, die oft lediglich subtil angedeutet werden: Driveways erzählt teils mit nur wenigen Worten und umso vielsagender mit Gesten und Blicken von Familienkonstellationen und –konflikten, Freundschaft, vom Suchen nach einem neuen Platz im Leben, vom Aufwachsen und Älterwerden, von Liebe, Leben und Tod, Homosexualität, Rassismus und Kriegsveteranen. Bei der Premiere im Zoo-Palast waren übrigens auch das Drehbuchduo Hannah Bos und Paul Thureen, die einige erhellende Informationen zur Konzeption des Films offenbarten, und die Produzenten James Schamus (Brokeback Mountain) und Trudie Styler, die auch in der diesjährigen Wettbewerbs-Jury der Berlinale saß, zugegen.
Wesentlich bedrückender gestalteten sich die Screenings zweier Filme aus eben diesem Wettbewerb, die tiefe psychologische Abgründe erforschen. Der neue und bereits im Vorfeld der Berlinale durch starke Medienpräsenz angekündigte und mit hohen Erwartungen antizipierte Film von Faith Akin, Der Goldene Handschuh, nach dem gleichnamigen Roman von Heinz Strunk, zeichnet Teile der Biografie Fritz Honkas in Hamburg nach. Hauptsächlich in dessen Wohnung – in der er mehrere Frauen brutal tötet, zerteilt und aufbewahrt – und in der titelgebenden Kneipe voller tragischer Gestalten spielend, entfaltet der kammerspielartige Film einen teilweise unerträglichen Sog und verbreitet durch die ungeschönt brutale Darstellung der Morde einen verstörenden Ekel, der das Publikum an seine Grenzen bringt. Manche Kritiken werfen Akin vor, er nehme Honkas Opfern die Würde, doch dem kann entgegengehalten werden, dass mehrere Frauen sich der Gewalt sogar aktiv widersetzen und somit nicht zu bloßen schwachen Figuren verkommen, ein Aspekt, der auch durch das starke Schauspiel u.a. von Margarete Tiesel und Katja Studt unterstrichen wird. Gleichzeitig kann die radikale Brutalität der Gewaltdarstellung als eindringlicher Appell gegen andauernde Gewalt gegenüber Frauen durch Männer auf verschiedenen Ebenen in Zeiten von #MeToo gelesen werden. Zudem überzeugt Jonas Dasslers fokussiertes Schauspiel als Fritz Honka, ist jedoch – wie der gesamte Film – vielleicht zu verstörend, um einen Bären zu gewinnen.
Ebenfalls bei der Bärenverleihung leer ausgegangen ist der österreichische Beitrag Der Boden unter den Füßen von Marie Kreutzer, der – (womöglich zu) ähnlich wie der erfolgreiche Kritikerliebling Toni Erdmann von Maren Ade – von einer jungen Unternehmensberaterin mit Familienproblemen erzählt. Valerie Pachner liefert eine starke Tour de Force als Lola, die rastlos zwischen Meetings, Fitnessstudio und Besuchen bei ihrer suizidgefährdeten Schwester Conny (Pia Hierzegger) in der Psychiatrie hetzt und mit ihrer Chefin Elise (Mavie Hörbiger) ein heimliches Verhältnis hat. Zunehmend gerät Lolas Leben aus den Fugen. Die spannende Frage, ob sie sich gewisse Vorkommnisse nur eingebildet hat und auch sie wie ihre Schwester psychisch erkrankt ist, wird schließlich nicht beantwortet. Zudem werden einige Beziehungen nicht genügend ergründet, sodass das Publikum letzten Endes mit zu vielen an sich gelungenen Ansätzen des Films alleine gelassen wird. Gerade im Gegensatz zu dem weitaus überzeugenderen Meisterwerk Toni Erdmann führen die humorvoll-satirischen Spitzen gegen die teils erschreckend kalt gezeichnete Businesswelt und die dramatischen sowie zeitweise sogar psychothrillerartigen Elemente nicht zu einem stimmigen Ganzen.